Vernissage am 15.07.2020

„ANSICHTS-SACHEN”
Fotografien von Peter Oppenländer

Irene Ferchl zur Ausstellung in der Galerie Neuer Kunstverlag, Waiblingen

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Galeristen, lieber Peter Oppenländer,

es ist eine seltsame Zeit, die wir gerade erleben – und mir ist natürlich bewusst, dass schon meine Bemerkung Sie gähnen oder seufzen lässt: Das wissen wir ja nun inzwischen … Erlauben Sie mir diese Plattitüde trotzdem, denn die besonderen Maßnahmen dieser »echten« Vernissage – die wohl für uns alle die erste seit mehreren Monaten ist – korrespondieren wohl nicht zufälliger- / doch erstaunlicherweise ideal mit den Fotoarbeiten von Peter Oppenländer: Er zeigt uns einen anderen, verschobenen, ungewöhnlichen, ver-rückten Blick auf die Welt.

Dass allerdings im letzten Vierteljahr manches – wie der Plastikmüll in den Meeren – in den Hintergrund unserer Wahrnehmung getreten ist, während anderes – wie Fastfood und vor allem die (Feinstaub-)Masken – plötzlich im Vordergrund stehen, hätte niemand von uns noch im Februar gedacht. Geschweige denn, dass Masken inzwischen Alltagsdinge wie Taschentücher oder Kugelschreiber geworden sind – und ihre Entsorgung zum Umweltproblem.

Peter Oppenländer muss ich hier in Waiblingen wohl kaum vorstellen. Ganz früher hat er für die Zeitungen fotografiert, seit einem Vierteljahrhundert betreibt er als Fotodesigner sein eigenes Studio und konnte seine Arbeiten vor Ort und in den Partnerstädten immer wieder in Einzel- oder Gruppenausstellungen präsentieren. Der Stihl-Galerie dient er als Hausfotograf und dokumentiert alle dortigen Ausstellungen.
Als ich ihn neulich in seinem Atelier besuchte, kam ich durch die Oppenländerstraße und war mächtig beeindruckt. Aber es geht ja nicht um die Vorfahren, sondern um unseren, zumal in der Werbe- und Kreativwirtschaft berühmten Zeitgenossen:

Peter Oppenländer ist gerade vom Lürzer’s Archive zum dritten Mal in den Bereichen Architektur- und Werbefotografie als einer der weltweit »200 Besten Kreativen« gekürt worden, aus über 8000 Bewerbungen.
Wenn Sie seine immense Bandbreite interessiert, die Produkte umfasst von Bädern, Buchscannern und Klavieren bis Brot und Wein, Porträts von KünstlerInnen wie den Bildhauer Hüseyin Altin und die Musikerin Debbie Kammerer, Image-Präsentationen von Unternehmen, nicht zuletzt Bauwerke und Essen – neudeutsch: Food –, dann schauen Sie auf seine Website. Aber nehmen Sie sich Zeit: da kann man sich stundenlang spazierenklicken.
Dort auf der Website finden sich natürlich auch die Bilder dieser Ausstellung – aber die können Sie dank der Großzügigkeit des Neuen Kunstverlags in einem 48-seitigen Katalog mit nach Hause nehmen. Als Gedächtnisstütze, denn ihre eigentliche Aussage, Kraft und Faszination erreichen Oppenländers Fotoarbeiten nur in den großen Formaten.

Warum das so ist – außer wegen des Eindrucks seiner perfekten Technik, was Lichtführung, Bildaufbau, Ausschnitt anbelangt – und woher die Faszination rührt, soll uns im folgenden beschäftigen.

Fünf Serien hat er für diese Ausstellung ausgewählt und ihr den Titel »Ansichts-Sachen« gegeben. Das ist ein Wort zum Drumherumdenken mit mehreren Facetten:
Ansichtssachen bedeutet zunächst einmal: die Anschauung, den Blickwinkel, die Sichtweise – diese Begriffe besitzen eine große Nähe zum Optischen –, dann meint es aber auch: Auffassung, Haltung, Einstellung, also eine politische, weltanschauliche Positionierung.
Beide Bedeutungsfelder – das optische und das kritische – spielen in dieser Ausstellung eine Rolle und durch den Trennstrich zwischen Ansicht und Sachen verweist Peter Oppenländer außerdem noch auf die Dinge, die Gegenstände, die Objekte, die er fotografiert.

Nur in der Serie Narren-Freiheit gibt es einen Menschen … und der Anlass dazu war NSA – erinnern Sie sich? Sieben Jahre ist es her, dass Edward Snowden geheime Dokumente enthüllte, aus denen hervorging, dass die NSA (National Security Agency) in großem Umfang weltweit Telekommunikationsdaten abgefangen hat. Auch wenn die Bundesanwaltschaft nach Voruntersuchung feststellte, dass es keine strafbare geheimdienstliche Agententätigkeit gegeben habe, sollten wir insgesamt skeptischer sein – im Sinne des Narren, dessen Rezept lautet:
»Was bringt’s, sich über den Geheimdienst zu empören? / Nimm Wechselstrom, um diesen selber abzuhören.«

Für seine Serie »Narren-Freiheit« von 2014 hat Peter Oppenländer sich mit Hermes Kauter alias Frascatelli, der männliche Hälfte aus der Merklinger Zaubermühle zusammengetan. In der Rolle des Narren, der die Freiheit hat, zu sagen, was er denkt, der die Wahrheit äußern darf, ohne dafür bestraft zu werden (was freilich für Snowden und andere Whistleblower nicht gilt), in dieser Rolle äußert Hermes sich zu den Themen Alter und Selbstbild, Geld und Gelassenheit, dem Ernst des Lebens und der Frage: »Was, wenn einmal die Lichter ausgehen?«
Es sind Fotos von schauspielerischen Inszenierungen, bei denen man ganz genau hinschauen sollte, um viele kleine Details und Anspielungen zu entdecken, etwa die Medizinfläschchen als Schachfiguren des Todes. Und natürlich die ausdrucksstarke Mimik und Gestik von Hermes Kauter, dem die närrische Rolle wahrlich ideal zu passen scheint.
Auf jeden Fall kriegt man bei dieser Hommage an die Figur des Narren und die Zauberei Lust, mal nach Weil der Stadt-Merklingen zu fahren …

Die Darstellung von (unbelebten) Sachen auf Gemälden und Fotografien nennt man gemeinhin Stilleben – allerdings kann von »still« in der Serie High Speed wahrlich nicht die Rede sein, im Gegenteil: es geht um Geschwindigkeit.

Da sehen wir Obst, Gemüse und Blüten wie zersplittern, besser: zerstäuben, aber nur teilweise. Während Peperoni, Gurke und Spargelstange, sogar die Tomate ihre eigentliche Form noch zu behalten scheinen, werden die Erdbeere, die Zwiebel und die Kartoffel ziemlich zerfetzt. Bei den Blumen, bei der Gerbera noch mehr als bei Rose und Tulpe, entsteht geradezu ein Feuerwerk aus zerstiebenden, beschleunigten Teilchen.

Entstanden ist diese Fotoserie als sehr frei aufgefasster Auftrag für eine Firma, die Motorenteile herstellt; Peter Oppenländer hat für NPR auch überaus ansprechen Metallobjekte aufgenommen. Und wie macht er das? Der Fotograf erlaubt uns einen Blick in die Werkstatt: Im dunklen Raum schießt er mit dem (geliehenen!) Luftgewehr auf die Objekte – aber wie das dann hinhaut mit dem Schuss und dem zeitverzögerten Blitz und warum die Blumen in flüssigem Stickstoff kristallisiert (vereist) werden müssen, damit sie so schön explodieren, diese Betriebsgeheimnisse kann der Fotograf nachher vielleicht im persönlichen Gespräch lüften.
Mich erinnern diese Experimente, die einem unwillkürlich ein lautes »Wow!« entlocken, ein bisschen an die Molekularküche eines Ferran Adrià und vermutlich mag man die durchschossenen Gemüse und Früchte nicht mehr essen. Hingegen haben die Lebensmittel auf den Fotos der Serie radikal vertikal eine äußerst appetitliche Ästhetik. Wie der Titel verrät, sind die Objekte – die Speisen und Werkzeuge ­– exakt von oben (hart) aufgenommen, so werfen sie keine Schatten und wirken nüchtern, losgelöst, geradezu »clean«. Es ist das »Mise en place« nicht eines Kochs, sondern das Arrangement für die Arbeit des Food-Stylisten – mit Marcel Sumpf hat Peter Oppenländer schon oft zusammengearbeitet.
Man könnte ins ästhetische und kulinarische Schwelgen geraten angesichts der Zutaten und des – fast möchte man sagen – Sezier-Bestecks. Und ist es nicht eine Schule des Sehens angesichts dieser porenscharf getroffenen Details: die aufgeschnittenen Erdbeere, Zitrone, Süßkartoffel, die Kräuter-Blättchen, Sößchen und wie hübsch so ein grünes Spargelstengelchen und ein Granatapfelkernchen. (Und für uns Nicht-Vegetarierer: wie ansehnlich ist doch so ein Lammkarree!)

Übertroffen werden diese Fotos an Appetitlichkeit nur noch von denen der nächsten Serie upside down. Da konfrontiert uns der Fotograf mit einer ungewöhnlichen Technik und stellt unsere Wahrnehmung vor Fragen.
Erstmal sieht man einen gebeizten Lachs und Linguine, Muscheln und Garnelen, Glasnudeln, Dessert mit Früchten, Kuchen und bunten Macarons – aber irgend etwas ist anders … Und das hat vor allem mit Räumlichkeit und Flächigkeit zu tun.
Der Titel verrät es: Drapiert und aufgenommen sind diese Köstlichkeiten upside down, umgekehrt: oben nach unten. Es sind also gewissermaßen fotografische Hinterglasbilder.
(Man weiß um diese Technik in der Kunst, denken Sie an Kandinsky und Gabriele Münter, witzigerweise habe ich mich mit Hans Mendler intensiv darüber unterhalten, für den ich zuletzt an diesem Ort reden durfte, und er hat mir verraten, dass da auch bei viel Erfahrung des Malers mit der umgekehrten Schichtung von Farben doch Unvorhergesehenes passieren kann.)
Eigentlich überlässt Peter Oppenländer nichts dem Zufall – so jedenfalls ist mein Eindruck –, er konzipiert, arrangiert und inszeniert alles auf das Perfekteste, wie es sich für einen Meister der Stilleben- und der Werbefotografie gehört, der ein großes Interesse an der Kunst hat und bekennt, das Licht bei den alten Meistern zu bewundern. Aber man staunt, dass immer noch Neues erfunden, gefunden und uns vor Augen geführt werden kann – und ein Fotograf einen so spezifischen, individuellen Stil entwickeln kann.

Der Reigen der fünf Ansichts-Sachen, der kritisch begonnen hat, schließt sich mit dem fünften Zyklus wieder politisch.
In den letzten Jahren, mir selbst offensichtlich seit der vorletzten Documenta, wendet sich ein Teil der Bildenden KünstlerInnen – zu denen ich die Fotografen selbstverständlich zähle – verstärkt den Themen der Umweltzerstörung, der Ausbeutung von Mensch und Natur, dem Klimawandel, auch den Fragen der Migration etc. zu. Und meistens geschieht dies dokumentarisch, in Form von Reportagen (was früher der Job der JournalistInnen war).

Darauf vertrauend, dass das »echte« Abbild der Realität die stärkste Aussagekraft habe (Konjunktiv – kein Handy-Schnappschuss gibt ein objektives Bild der Wirklichkeit). Kurzum: Ich bezweifle, dass Authentizität das entscheidende Kriterium für die Wirkung sein kann.
Und Peter Oppenländer macht wieder einmal etwas Anderes: Seine tiefgründige Serie Responsibility ist von Anfang bis Ende inszeniert. Damit steht er durchaus in einer Reihe der großen Vertreter seines Genres.
Lassen Sie mich kurz zwei Beispiele aus der Geschichte der Fotografie erzählen.
Angeblich ist es das berühmteste Foto der Welt: »Der Kuss« – Sie haben es sicher vor Augen – ein junges Liebespaar auf der belebten Rue de Rivoli vor dem Hotel de Ville, 1950 aufgenommen von Robert Doisneau.
Dutzende von Liebespaaren hätten sich im Lauf der Jahrzehnte gemeldet, sich als die Abgebildeten ausgegeben, um schließlich von Doisneau abgewiesen zu werden, der eingestehen musste, dass es sich hier nicht um die Spontanaufnahme zweier anonymer Menschen aus der Masse handelt, sondern um zwei Schauspielschüler, die er ganz gezielt castete und inszenierte.

Das zweite Fotobeispiel gilt als berühmtestes Kriegsfoto der Welt: »Fallender Soldat« von Robert Capa, aufgenommen 1936 während des Spanischen Bürgerkriegs. Es zeigt einen Soldaten, von einer Kugel getroffen im Augenblick des Todes – heute eine Ikone gegen Kriege.
Immer wieder wurde das Foto zur Fälschung erklärt, aber erst seit dem Auffinden der Negative weiß man: In gewisser Weise wurde auch dieses Foto inszeniert. An einem ruhigen Tag posierten die gelangweilten republikanischen Milizionäre für Capa, rannten und schossen für die Fotoserie und alarmierten solcherart die faschistischen Truppen. Weil die Männer vor der und für die Kamera Krieg spielten, wurde einer dabei von den feindlichen Soldaten durch einen Kopfschuss getötet.
Was will ich mit diesen Beispielen sagen?

Dass es keineswegs des Authentischen bedarf, um betroffen zu machen, dass es keine Reportage zur Umweltverschmutzung, zum ungesunden Fastfood, zum schmelzenden Gletschereis, zur Feuerrodung des Regenwalds braucht, um aufzurütteln – sondern, dass ein Bild uns dazu auch etwas erzählen kann.

Das Perfide in der Fotoserie Responsibility ist aber nicht die Inszenierung, sondern dass einige der Fotos auf den ersten Blick so schön sind, geradezu harmlos ästhetisch: faszinierende Wimmelbilder, die wir gern als Ansammlung von Muscheln oder Pilzen bewundern und in die Falle der bloßen Bewunderung locken würden, wenn da nicht stünde: »Filter der Meere« und »Filter der Luft«. Und unter den immer wieder faszinierenden Fotos von Feuer und Glut steht: »Regenwaldabholzung« oder «Buschbrände«. Sogar bei den Arrangements der Heuschrecken an den Stengeln und der Instant Noodles mit ihren farbenfrohen Plastikverpackungen ist vermutlich die Bildunterschrift »Heuschreckenplage« und »Kritische Lebensmittel« notwendig.
Bei den Lederwaren assoziieren wir vielleicht unmittelbar »Tiertransporte«, bei den schmelzenden Eiswürfeln die »Erderwärmung« und bei der Ansammlung von Eierschalen im Schmutz die »Massentierhaltung« der Hühner.

Die »Feinstaubmasken« hatte ich anfangs erwähnt, ebenso das »Mikroplastik« – auf dem Foto erkennen wir die Anlandung von Müll wie wir alle es an vielen Stränden dieser Welt auch gesehen haben.
Peter Oppenländers hintergründige Aussagen treffen, wir nicken und geloben wo möglich Besserung. Und wissen alle, dass EIN Foto die Welt nicht verändert, aber vielleicht einen Anstoß geben kann? Schon indem es Sehgewohnheiten verändert.
Was macht schließlich die Qualität eines Bildes aus? Dass es uns etwas erzählt? Uns für einen Moment mindestens zum Nachdenken bringt? Das es uns trifft!

Seien Sie herzlich bedankt für Ihre Aufmerksamkeit ­– ich glaube, Peter Oppenländers Fotoserien geben uns eine Menge Stoff zum Nachdenken und für weitere Gespräche.

© Text: Irene Ferchl, Juli 2020

© Fotografie: Peter Oppenländer