Vernissage am 31.10.2020 und 01.11.2020

Innehalten
Gedanken zur Ausstellung

Manchmal hilft Warten. Als H. P. Schlotter den Begriff des »Innehaltens« als Titel für Katalog und Ausstellung wählte, konnte er nicht ahnen, dass es 2020 zu einem Wort des Jahres werden würde – ob das von der Gesellschaft für Deutsche Sprache gekürte »offizielle«, wissen wir noch nicht. Aber gefühlt repräsentiert »Innehalten« unser aller Erfahrungen in den letzten Monaten: einen zuvor nie denkbaren Stillstand des öffentlichen, bis heute zumal des kulturellen Lebens. Konnten viele dem Lockdown in den sonnigen Frühlings- und Sommerwochen noch Gutes abgewinnen, nämlich Verlangsamung und Übung in Gelassenheit, so überwiegen nun Ungeduld und Überdruss. Wann endlich kehrt wieder Normalität ein?!

Nutzen wir die Gelegenheit erzwungener Ruhe zum Blättern in Büchern und Recherchieren im Internet auf der Suche nach dem »Innehalten«. Im Grimmschen Wörterbuch (meiner etymologischen Bibel) finden sich Belegstellen bei den erwartbaren Klassikern von Wieland bis Goethe, leider ohne neue Erkenntnis. Hingegen hat der Zeitforscher Karlheinz Geißler Erhellendes zum Thema formuliert: »Innehalten ist eine notwendige und sehr beliebte Dehnungsfuge, um die unterschiedlichen Hochgeschwindigkeitsaktivitäten gehetzter Zeitsparer zu verbinden und sie doch gleichzeitig auch auseinander zu halten. Aufs Abbremsen kann und sollte man nicht verzichten.« Dann gibt der Praktiker Ratschläge zur Entschleunigung, zum regelmäßigen Innehalten, etwa im Schlaf. Und resümiert: »In diesem lebendigen Zustand gewinnt man Zeit, weil man sie verliert und auch vergisst.«

Innehalten sei die »Einheit von Moment und Dauer« und die »Paradoxie des Augenblicks mit Ewigkeitswert«, zitiert Geißler den Systemtheoretiker Niklas Luhmann. Mit diesen Definitionen nähern wir uns H. P. Schlotters Arbeiten. Seit 2006 hat er den Titel »Innehalten« immer wieder für Gemälde verwandt, auf denen eine Bewegung scheinbar zur Ruhe gekommen ist. Allerdings nur für einen Moment, bevor die Dinge wieder den physikalischen Kräften gehorchen müssen, fallen oder entschweben, aus der Erstarrung befreit ihre Schwere­losigkeit wieder einbüßen.

Ein kurzes Innehalten ist es jedenfalls, wenn der Künstler sich regelmäßig Zeit nimmt, die Eindrücke des Tages in einem seiner seit über vier Jahrzehnten mit Skizzen, Collagen, Aufzeichnungen gefüllten Malerbücher zu notieren. Ein Rückblick auf Erlebtes, ein Nachdenken, eine Reaktion auf Gesehenes, Gehörtes steht für sich und wird zur Chronik eines Schaffens, kann aber auch als Ideensammlung zum Ausgangspunkt eines späteren Bildes werden. Wem ist heute noch bewusst, dass das Wort »Innehalten« ursprünglich nicht nur Unterbrechung und kurze Ruhe bedeutete, sondern gleichermaßen »Behalten« und »Enthalten« – da denkt man an H. P. Schlotters Vorlieben fürs Sammeln und Bewahren.

Die Fundstücke, die es zu bewahren gilt, sind Objekte aller Art: Früchte, Blätter, Schoten, Zweige und anderes aus der Natur, dazu unidentifizierbare Teile, mit Worten kaum präzise zu benennende Gegenstände, manchmal medizinischen Werken und Schautafeln vom Biologieunterricht entnommen, inzwischen häufiger Illustrationen aus der Kunst- und Medienwelt.

Der Künstler gibt gern Rätsel auf und präsentiert Wunderkammern voll unwiederholbar flüchtiger Zusammentreffen von Wirklichkeit und Idee, um mit jedem neuen Bild darauf hinzuweisen, dass wir es mit Kunstwerken zu tun haben, nicht mit Abbildern. Die Gegenstände interessieren ihn wegen ihrer Form, er nimmt sie zum Anlass, immer wieder etwas Neues auszuprobieren, lustvoll damit zu spielen.

Zum Aufheben bedarf es passender Gefäße. Da gibt es bei H. P. Schlotter seit vielen Jahren die Schalen und Schüsseln in unterschiedlichster Form und Farbigkeit – »Char« ist das althochdeutsche Wort für Krug oder Trog. Später tauchen auf den Bildern Vasen in Gestalt von Urnen oder Amphoren auf, gelegentlich noch Schränke, Schreine und andere Gehäuse als Depots. Weiter gefasst gehören Hüllen oder Verpuppungen dazu und nicht zuletzt ist ja auch der Kopf ein Gefäß für Gedanken und Gefühle, siehe das Gemälde »Denkstelle«.

Was bergen die Schalen? Im Grunde dasselbe wie die Vasen, nämlich Farbe, mal monochrom blau, gelb oder weiß, oder farbigen Ornamenten, wie in der hier gezeigten siebenteiligen Serie »Vasenmalerei«. Hier wurde zunächst der Nesseluntergrund bemalt und dann im zweiten Schritt mit der Vasenform zugemalt. Das heißt: Der Malprozess selbst wird in Gefäße gefüllt.

Von »schwebender Offenheit« spricht Schlotter, und dass etwa Heiner Bastians Formulierung »eine seltsame Bedeutung, die unser Suchen annimmt« seine eigene Arbeitsweise treffe. Wobei es oft nicht einmal um das Suchen, sondern um ein zufälliges Begegnen oder Finden von Materialien jeglicher Art geht. Das kann ein gewissermaßen selbstreferenzieller Satz sein – »So als gäbe es neben der Logik eine zweite Stimme« –, dessen Quelle dem Künstler nicht mehr bewusst war, als er ihn als Titel für drei kleine Papierarbeiten gewählt hat. Bei ihnen verwendet er neben anderen die Technik des »Stencil«, der Schablonen­kunst, und zwar sowohl die ausgeschnittene Form als auch den stehen­gebliebenen Umriss. Ähnlich sind die beiden »Pflanzungen« entstanden, deren Ultramarinblau wegen seines häufigen Vorkommens schon als »Schlotterblau« bezeichnet wurde. Es ist Ihnen bereits auf der Einladung und auf dem Umschlag dieses Katalogs begegnet, wo das große Querformat einen vielleicht erklärungs­bedürftigen Titel trägt: »Eingriff (Inconclusio)«, er spielt darauf an, dass die möglicherweise noch nicht fertige Arbeit durch die Begeisterung fremder Betrachter als vollendet erklärt wurde.

Wenn wir schon bei blauen Bildern und narrativen Titeln sind: Gleichfalls aus diesem Jahr 2020 stammen zwei kleine Formate mit entzifferbaren Worten, »Meine Gedanken sind Freunde von irgendwoher, wo man nicht daheim sein kann«, respektive »Meine Gedanken sind Freunde … Emigranten aus einem Reich, das perdu heißt«. Das Monogramm G. K. steht für den Dichter Günter Kunert, dessen immer die Lektüre lohnenden Texte H. P. Schlotter schon früher angeregt haben, darüber zu sinnieren und dazu zu zeichnen.

Kein Mensch denkt bei »My back pages« an Rückseiten, jeder hat auch ohne den Hinweis auf »Dylan’s Words« noch dessen alten Song von 1964 im Ohr, den Refrain »Ah, but I was so much older then / I’m younger than that now«.

Inspiriert von diesem Song, aus dem Zeilen auf den Blättern zu lesen sind – »Using Ideas as my Maps«, »Rip down all Hate« oder »Too serious to Fool« –, hat Schlotter 2015 zunächst eine kleinformatige Serie geschaffen und einige Blätter davon vergrößert. Die Technik ist ungefähr folgende, und »Mischtechnik auf Papier« eine eigentlich unzulässige Verkürzung: Auf der Rückseite von alten Papieren, auf der Schrift oder Prägungen durchscheinen, wird collagiert, übermalt, geprägt, das Ganze gescannt, gedruckt und malerisch weiter
verarbeitet. Der Effekt ist immer wieder faszinierend …

Was bei einem Künstler den kreativen Prozess auslöst, kann beim Betrachten der Bilder ebenfalls nützen: ohne Scheu den Assoziationen und Affekten zu folgen. Gleichwohl sollte man für spannende Entdeckungen genau hinschauen – und darf sich durchaus nach der Machart oder Herkunft mancher Motive und Titelgebung erkundigen.

Bei dem Begriff »Capriccio« drängt sich der Gedanke an Goya auf, dessen Radierzyklus »Los Caprichos« die spanische Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts kritisch-satirisch beleuchtet. Bei Schlotter trifft der Wortsinn – Einfall, unbeschwerte Laune – vielleicht mehr zu, und seine ethymologische Vermutung, dass »capriccio« von capra = Ziege herkommt und so etwas wie Bocksprünge bedeutet, leuchtet unmittelbar ein. Während man schon sehr belesen sein muss, um bei »Les Petits Justes« auf Paul Èluards Gedichtzyklus zu kommen. Vielleicht lässt sich jedoch spontan Surreales assoziieren …

Bei einem Gros der Arbeiten wird die Technik mit »Pigment, Acrylbinder auf Nessel« angegeben. Das heißt, H. P. Schlotter verwendet als Maluntergrund Nessel, also Baumwolltuch, dessen haptische Oberfläche entsteht, indem auf die Grundierung Sandkörnchen und Pigment aufgebracht, mit Acryl gebunden werden. Einen reizvollen Effekt ergeben Nähte im Stoffgrund, denn sie strukturieren die Fläche, ebenso wie die seit den 1990er Jahren vollzogenen Teilungen: Doppelbilder und Paarbilder (wie die großformatigen »Kar 09«, »Char VII« und »Tischrunde«) bestehen aus zwei »Leinwänden«, gleich oder verschieden breit, die parallel bearbeitet und während des Malens auch umgedreht werden können. Die besondere Art der Spannung zwischen ihren Teilen entsteht aus den Verklammerungen und Abgrenzungen samt einem unbekannten Dazwischen. Immer benötigen sie ein Gegenstück – in der Balance liegt das Geheimnis ihrer Harmonie.

Die vier Gemälde mit dem Titel »Chrysalis« und das neuere »Chrysalid« seien als Werkgruppe zuletzt erwähnt. Unter Chrysalis versteht man das Insekt in der Metamorphose, also der Verpuppungsphase, dem Puppenstadium zwischen Larve und Insekt. Das deutsche Wort »Puppe« allerdings ist zu stark von dem Lieblingsspielzeug kleiner Mädchen geprägt, deswegen taugt der zoologische Fachbegriff besser.

Auf einer ungrundierten Leinwand entpuppt sich ein vielschichtiges Bild, manches ist erkennbar wie Köpfe, Flügel, elfenhafte Beine; Formen wie eine Vase oder ein Kokon scheinen mal deutlich, mal vage hindurch, regen die Phantasie an und verlocken zu Entdeckungen, zum Nachdenken und vor allem: zum Innehalten.

© Text: Irene Ferchl, Oktober 2020

© Fotografie: Joschka Silzle