Wolfgang Ganter – Selforganizing Reality, Vernissage am 07.10.2021

Selforganizing Reality – Micropaintings von Wolfgang Ganter
Einführung zur Ausstellung

Die Ausstellung im Neuen Kunstverlag gibt einen Einblick in die Serie der „Micropaintings“ von Wolfgang Ganter, wobei die Bezeichnung „Micropaintings“ irreführend sein kann, wenn man sie zu wörtlich nimmt. Denn die Werkgruppe wird weder durch besonders kleine Formate charakterisiert – einzelne Arbeiten können bis knapp über 4m groß sein – noch handelt es sich um Malerei im klassischen Sinn. Der Titel „Micropaintings“ verweist vielmehr auf den Prozess, der hinter den Arbeiten steht. Doch zunächst soll nicht zu viel verraten sein, nicht zu viel ­Hintergrundwissen bereit gestellt werden, denn die Anziehungskraft der „Micropaintings“ liegt zunächst in ihrem visuellen Reiz begründet.

Die Fotografien entwickeln mit ihrem intensiven Farbspektakel einen optischen Sog, dem sich Betrachtende wohl kaum entziehen können. Ist man erstmal dem visuellen Bann verfallen, fesselt die enorme Leuchtkraft der perfekt ausgeführten Abzüge den Blick und es beginnt das genaue Studium. Die intensiven Farben scheinen aus einer unbekannten Energie heraus entstanden zu sein, wecken die Fotografien doch Assoziationen an kosmische Phänomene oder ­Satellitenaufnahmen vom zerklüfteten Packeis an den Polkappen. Diese Vergleiche sind naheliegende Versuche das Gesehene einzuordnen, das Mystische mit dem persönlichen Bildgedächtnis abzugleichen und damit erklärbar zu machen.

Carolin Wurzbacher bei der Einführung in die Ausstellung.
Wolfgang Ganter im Gespräch mit Gästen der Vernissage.

Ganter selbst praktiziert dieses Vorgehen bei der Titelwahl für seine Fotografien: Er bezeichnet sie eigentlich schlicht als „Untitled“, spezifiziert sie jedoch in Klammern gesetzt und vergibt damit assoziative Untertitel. Die Arbeit „Untitled (Failed Supernova)” erinnert durch das im Zentrum sichtbare und von Rot über Orange bis hin zu Gelb glühende Gebilde an eine so genannte Supernova – das plötzliche, helle Aufleuchten eines Sterns zum Ende seiner Existenz durch eine Explosion. Die Leuchtkraft steigt dabei auf etwa das Milliardenfache an und ist im Helligkeitsmaximum von derselben Größenordnung wie die einer Galaxie.

Untitled (Failed Supernova), 2021, 100 x 100 cm
Untitled (Hollow Wave), 2020, 162 x 175 cm

­Andere Arbeiten tragen Untertitel wie „Solar Flare“ (Sonneneruption), „Neutron Star“ (Neutronenstern) oder „Ivy Mike“. „Ivy Mike“ ist der Kurzname für den 1952 durchgeführten Kernwaffentest der USA, durch dessen enorme Explosion eine Atollinsel im Pazifik vollkommen weggesprengt wurde. Diese visuellen Vergleiche verdeutlichen in welchem Farb- und Formspektrum sich die Serie der „Micropaintings“ bewegt. Sie erinnern an Fotografien des Weltraumteleskops Hubble oder an die Satellitenbilder von Google Earth. Die Analogie ist offenkundig, doch stellt sich die Frage nach der Herkunft der Bilder.

Galerist Hendrik Schulze Kalthoff (rechts) im Gespräch mit Gästen der Vernissage.

Ganter erzeugt seine „Micropaintings“ durch das fein säuberliche Auftragen chemischer Substanzen mit der Mikropipette auf fünf mal fünf Zentimeter große Glasträger. Mit zwei oder mehr Chemikalien setzt er eine Reaktion in Gang, die er fotografisch unter dem Mikroskop festhält. Ganter wählt gezielt die für ihn reizvollste Stelle unter dem Mikroskop aus, und beginnt von dort aus spiralförmig die umliegenden Bereiche zu fotografieren. Es entstehen etwa 200 Einzelaufnahmen, die anschließend zu einem gestochen scharfen Ganzen zusammengefügt werden. Die Stiching-Software PTGui, die für die Erstellung von Panoramaansichten geschätzt wird, bildet hierfür die Arbeitsgrundlage. Das Programm rechnet die Einzelbilder zusammen und erzeugt eine erste Bilddatei. Er prüft sie auf Unstimmigkeiten und bearbeitet diese manuell, um ein nahtloses Endergebnis zu erzielen. (1)

Abschließend druckt Ganter die Datei als Echtpigmentprint und kaschiert sie auf einen eigens entwickelten Glasfaserträger, der an den Rändern exakt entlang der Motivgrenze beschnitten wird. Hierdurch erhalten die Arbeiten ihre charakteristischen runden bis ovalen Formen, deren Ränder zuweilen zerklüftete Einbuchtungen aufweisen. Sie entwickelt sich durch die Ausdehnung der chemischen Reaktion von ihrem Zentrum aus. Die amorphe Form entsteht automatisch aber keinesfalls zufällig. Ganter steuert per Dosierung und zeitlich versetzter Zugabe von Substanzen die chemischen Prozesse.

Galeristin Nadine Müller (mitte) im Gespräch mit Gästen der Vernissage.
Untitled (Solar Flare), 2020, 162 x 190 cm

Das Knowhow hierfür hat er sich über die Zeit und mithilfe des befreundeten Chemikers Dominik Gauss erarbeitet. Er führte ihn in die korrekte und sichere Arbeitsweise mit chemischen Stoffen ein, zeigte Ganter wie Flüssigkeiten übertragen werden, welche Arbeitsbedingungen hergestellt werden müssen und was die Warnhinweise auf den Behältern bedeuten. (2)  Die erlernten Methoden dienen ihm jedoch nur als Mittel zum Zweck. Ganter experimentiert mit den verschiedensten Chemikalien, lernt Reaktionen herzustellen, sie zu unterbrechen und zu beeinflussen.

Sein Vorgehen gleicht naturwissenschaftlichen Versuchsreihen, unterscheidet sich aber in der Zielsetzung. Ganter geht es nicht um wissenschaftliche Erkenntnis, sondern um die Instrumentalisierung chemischer Prozesse zur Erstellung außergewöhnlicher Bilder. Der Titel „Micropaintings“ ­ist eben doch wörtlicher zu nehmen, als man vermuten könnte. Denn Ganters Experimente stellen malerische Bildfindungen her, deren nuancierte Farbverläufe und außergewöhnliche Binnenzeichnungen selbstlegitimierend sind. Dass die Bildfindung im Zentrum seines Interesses steht, äußert sich ebenfalls in der Verwendung haushaltsüblicher Produkte wie Nagellackentferner, Olivenöl oder Gleitgel.

Ohne ihre genaue Zusammensetzung zu kennen, interessiert Ganter ihre Reaktion mit definierten chemisch Substanzen im Hinblick auf die daraus resultierenden visuellen Effekte. Es ist ein spielerischer zuweilen humorvoller Umgang mit den Stofflichkeiten, angetrieben von der Suche nach fesselnden Bildern und dimensionsübergreifenden Analogien.

Untitled (Spontaneous Order), 2021, 100 x 111 cm
Wolfgang Ganter im Gespräch mit Gästen der Vernissage.

Bei den „Micropaintings“ handelt es sich um seine neueste Werkgruppe für die er auf Erfahrungen vorausgeganger Schaffensphasen zurückgreift. Bekannt geworden ist Ganter durch seine Fotografien von bakterieninfizierten Dias. Bereits am Ende seines Studiums an der Kunstakademie Karlsruhe beginnt er mit alten Dias zu experimentieren: er beträufelt gefundenes Bildmaterial mit Bakterien, die sich beginnen von der Gelatineschicht der Dias zu ernähren. Hierdurch wird das ursprüngliche Fotomotiv einem Zersetzungsprozess ausgesetzt, den der Künstler zu einem geeigneten Zeitpunkt unterbricht und, wie bei den „Micropaintings“, durch ein Mikroskop fotografiert.

Was amateurhaft beginnt, professionalisiert Ganter in den folgenden Jahren. Er beschäftigt sich mit Bakterienkulturen, züchtet sie im Inkubator und beginnt sich über schlichtes „trial and error“ den notwendigen Erfahrungsschatz aufzubauen. In dieser ersten Zeit ­infiziert sich der Künstler das ein oder andere Mal sogar selbst mit Bakterien, doch zum Glück erholt er sich immer wieder davon, auch wenn eine ernsthafte Augenentzündung ihm zwischenzeitlich Sorge bereitete.

Sein experimentelles Vorgehen im selbst gezimmerten Laborkämmerchen professionalisierte er auf beeindruckende Weise: er nimmt Kontakt auf zum Experimentalphysiker Eshel Ben-Jacob (1952–2015), der auf die Selbstorganisation von Bakterien sowie bakterielle Intelligenz spezialisiert und zuletzt an der Tel Aviv University tätig war. Über diesen Austausch erarbeitet sich Ganter Fachwissen und bezieht Bakterienstämme, die besonders geeignet für seine künstlerische Arbeit sind.

Für die Einfuhr der Bakterien nach Deutschland und als Ratgeber findet Ganter in dem Mikrobiologen Klaus Hausmann (FU Berlin) und in dessen jüngeren Kollegen Diego Serra wichtige Kooperationspartner. Sein heutiger professionalisierter Umgang ermöglicht ihm gezielt Bakterien einzusetzen, um bestimmte Bildeffekte herzustellen. Ein kleiner Anteil an Zufall liegt aber nach wie vor in der Natur der Sache und ist von Ganter durchaus gewollt.

Wie die Perfektionierung im Umgang mit seinen Bakterienstämmen, entwickelt sich auch die fotografische Bearbeitungs- und Produktionsprozedur seiner Werke. Heute verfügt der Künstler über speziell auf seine Bedürfnisse abgestimmte Mikroskope, hochwertige Digital­kameras und Bildbearbeitungsprogramme. Dementsprechend ist auch der letzte Arbeitsschritt, der Druck und die Kaschierung der Fotografie auf den Bildträger perfektioniert. Was anfänglich auf Holz aufgebracht wurde, wird heute auf leichte und formstabile Glasfaserträger montiert.

All dieser über die Jahrzehnte erarbeitete Erfahrungsschatz ist Nährboden und Inspiration für die „Micropaintings“, die wir heute in der Galerie des Neuen Kunstverlags sehen können. Sie sind das Ergebnis künstlerischer Feldforschung und eröffnen einen Bildkosmos, der sich in rational hermetischen Denkstrukturen der reinen Naturwissenschaft niemals eröffnen würde. Denn welcher Wissenschaftler würde schon auf die Idee kommen seine Versuchsreihen mit Gleitgel oder Nagellackentferner zu beeinflussen?

Doch lässt sich der Spieß auch umdrehen: Welcher Maler oder Fotograf würde auf direktem Weg derartige Motive finden? Es sind physikalische Gesetzmäßigkeiten und sogenannte selbstorganisatorische Prozesse denen Ganters Experimente aus sich selbst heraus folgen. Ganters Kollaborateur ist somit die Natur selbst und so erklären sich auch die visuellen Parallelen zu uns bekannten Phänomen des Makrokosmos, wie Beispielsweise des Weltraums. Die Physik gilt eben im Großen wie im Kleinen, im Makro- wie im Mikrokosmos.

Carolin Wurzbacher, Oktober 2021

 

Zu einer gelungenen Vernissage gehört natürlich auch ein kulinarischer Genuss.

(1) Vgl. Inge Hinterwaldner: Vom Diafilm mit Biofilm zum Chemofilm. Wolfgang Ganters Transmediale Gratwanderungen, in: Wolfgang Ganter. After Glow, hrsg. von Birgit Möckel, Kunstverein KunstHaus Potsdam, Madeleine Frey, Galerie Stadt Sindelfingen, Rita Burster, burster gallery, Berlin | Karlsruhe, Feudenheim 2019, S. 25–35, S. 35
(2) Vgl. ebd., S. 34

 

© Text: Carolin Wurzbacher, 2021

© Fotografie: Joschka Silzle