Mona Rühle / Manuela Tirler, Vernissage am 21.09.2023

Organische Prinzipien in Skulptur und Malerei
Manuela Tirler und Mona Rühle

In dieser Ausstellung wird sichtbar, was es heißt, in Skulptur und Malerei ein verbindendes Thema zu verfolgen, das sich ästhetisch allerdings in völlig unterschiedlichen Erscheinungen zeigt. Denn Manuela Tirler als auch Mona Rühle befassen sich mit organischen Prinzipien und übersetzen Natureindrücke in die Sprache der Kunst. 

Galerie Neuer Kunstverlag – Ausstellung Mona Rühle / Manuela Tirler

Für Manuela Tirlers filigrane, doch kaum fragile Stahl- und Eisenarbeiten mag die Verbindung zu Natürlichem im ersten Moment bizarr klingen, da Armierungseisen und Stahlrohre solche elliptischen, kubischen oder baumähnlichen Formen nicht ohne weiteres auf natürliche Weise annehmen. Grundlage ist meist ein komplexes Geflecht aus unzähligen stählernen Strängen und Fäden, die sich wie Äste verzweigen oder zu einer gewebeartigen Oberfläche zusammenschließen. Trotz ihrer abstrakten Formen erinnern Manuela Tirlers Plastiken daher an Pflanzliches, an Formen wie Wurzelgeflechte, sich um etwas windende Pflanzenranken, schwebende Asthaufen, monumentale Blüten oder aus der Wand sprießende Gewächse und Organismen. 

Vordergrund: Kubus XXIV, Manuela Tirler, 2021, Eisendraht, ca. 30 x 30 x 30cm

Der zunächst zerbrechliche Eindruck der Gebilde wird erst aus nächster Nähe korrigiert, da hier die Starrheit des Materials zur Geltung kommt. Häufig sind sogar die Riffelungen der industriellen Fertigung noch zu erkennen. Ein gewisser Widerstand wird deutlich, was sich vor allem in den Spuren der Be- und Abarbeitung des Materials, den Schweißnähten und scharfen Graten ausdrückt. Selten gab es wohl Artischockenknospen („ARTichokes“, S. 6/56), bei denen gleichzeitig so akute Verletzungsgefahr ­bestand, würde man an ihre scharfkantig anmutenden Blätter gelangen. Anstatt Natur zu imitieren, erzeugt Manuela Tirler buchstäblich Spannung aus der Überwindung des Materials: Einerseits, indem sie sich dem Material körperlich stellt und es in einem Akt des Kräftemessens in einen künstlerischen Prozess überführt. Andererseits, indem sie dem eigentlich sperrigen Material eine luftige, zum Teil sogar schwebende Form verleiht. 

ARTichokes V, Manuela Tirler, je 2022, Stahl

Welchen Naturgesetzen Manuela Tirlers luftig in die Höhe steigenden „Weed-Stacks“ (S. 7/14), frei übersetzt: ­„Unkraut-Haufen“, folgen, ist mit bekannter Physik kaum zu erklären. Schwerkraft scheinen sie jedenfalls nicht zu kennen. Als wäre die Zeit angehalten worden, ­schweben die einzelnen Verästelungen über- und ineinander, wobei sie sich bei leichter Berührung sogar in Schwingung versetzen lassen. Voller Eleganz und ­Dynamik strahlen die filigranen Stahlkonstruktionen ­so gleichzeitig Ruhe und Bewegung aus. Neben ihrer pflanzlichen Assoziation vermitteln sie durch ihre Lebensgröße allerdings auch eine körperliche Präsenz, was ein Bedürfnis schürt, die Skulpturen berühren zu wollen. Den Eindruck von Leichtigkeit nimmt Manuela Tirler auch in ihre Titel auf, wie die Serie der „Tumbleweed“-Arbeiten (S. 24/30) zeigt. Die vornehmlich aus Westernfilmen bekannten „Steppenläufer“ rollen üblicherweise vom Wind getragen über die weiten Flächen, was von Manuela Tirlers Stahlgebilden wohl kaum zu ­erwarten wäre. Sie verbindet hier bewusst Gegensätz­liches und überwindet das starre Wesen des Materials. 

Links: Weed Stack V, Manuela Tirler, 2012, Stahl, ca. 168 x 67 x 60 cm. Rechts: Land in Sicht, Mona Rühle, 2021, Pigmente, Bitumen, Blattgold auf belgischem Rohleinen, 100 x 100 cm

Der natürlich-pflanzliche Eindruck wird auch durch die farblich eher gedeckten Töne bestärkt, Die bräunliche, rostrote oder dunkelgraue Färbung zeigt dem Betrachter nicht auf den ersten Blick, um was für eine Materie es sich hier handelt. Das bewusste Verwittern mancher Skulpturen bezieht zudem natürliche Kräfte mit ein und stellt eine Verbindung zu Prozessen der Vergänglichkeit her. Auch die zarten Schattenspiele der durchlässigen Oberflächen vermitteln Leben­digkeit. Mal glatt und edel, mal grob geriffelt kommt die Ästhetik des ­Natürlichen allerdings immer wieder ins Schwanken. 

Als hätte sich ein Netz langsam über einem runden Gegenstand ausgebreitet und ihn schließlich unter sich aufgelöst, formen die Arbeiten der Serie „Weed-Sphere“ (S. 17/20/27) kreisrunde chaotische, aber doch ausgewogene Stahlgewebe, die sogar kosmische Assoziationen wecken. Diese Spannung aus ­Organik und Geometrie durchzieht Manuela Tirlers Arbeit in vielen Facetten. Ihre geometrischen Hohlräume, sei es in Form von Kuben, Ellipsen oder spitz zulaufenden, kegelartigen Gebilden verbinden mathematische Starrheit im ­Außenraum mit chaotischer Willkür im Inneren. 

Links: Weed Sphere XIII, Manuela Tirler, 2020, Stahl, ca. 180 x 45 cm. Rechts: Turning Wheel III, Manuela Tirler, 2016, Stahl, ca. 70 x 70 x 40 cm

Ein andauernder Widerspruch von Assoziation und tatsächlicher Beschaffenheit, von Wirkung und Material wird dabei erzeugt, der auch die eigene Wahrnehmung auf die Probe stellt. Ästhetische Spuren geben dem Auge zwar einen Ankerpunkt, was man glaubt zu kennen, löst sich aber nicht ein. Manuela Tirlers „Waldstücke“ (S. 33/48) erscheinen vielmehr wie Modelle eines Waldabschnitts, der mit obsessivem Ordnungssinn gepflanzt, gepflegt und in Form gehalten wurde. Es sind surreale Gebilde fremder Lebensräume, die organische Prinzipien andeuten, sie aber gleichzeitig ins Absurde führen. 

Dabei ist nie abschließend geklärt, was hier wächst – oder nach was sich seine Ranken ausstrecken. Wie Tentakeln mit Saugnäpfen oder doch technische Sonden suchen die Stahlarme sich ihren Weg, um anzudocken. Die Arbeit „Yvy VII“ (S. 8/44) bewegt sich zwischen Pflanze, Tier und Netzwerk, wobei auch ein Gefühl des Unbehagens aufkommen mag. Manuela Tirlers Stahlwesen beschlagnahmen Galerieräume und bevölkern ihn als ihren Lebensraum. So hat sich auch die Arbeit „Dark Corner IV“ (S. 37) eine Ecke auserwählt, in der sie wie ein Beobachter von oben herab das Geschehen im Raum überwacht. Bei aller Vorsicht möchte man sie dennoch anfassen: In ihrer stählern-organischen Anmut strahlen sie eine haptische Anziehungskraft aus, der kaum zu entkommen ist. 

Impressionen der Vernissage am 21.09.2023

 

Links: Movement XVII, Manuela Tirler, 2009, Eisendraht, ca. 95 x 22 cm. Rechts: Waldstück LVI, Manuela Tirler, 2014, Eisendraht, ca. 55 x 19 x 19 cm.

Auch Mona Rühle befasst sich in ihren Malereien mit organischen Prinzipien und erzeugt Naturfragmente, die gleichzeitig Kunst und Natur sind. Für ihre Arbeiten verwendet sie zahlreiche natürliche Materialien wie Asche, Kohle, Sand, Blattgold, reine Pigmente, Pflanzen- und Baumfasern oder Vogelfedern und verbindet die Elemente zu großformatigen abstrakten Kompositionen, denen eine archaische Kraft innewohnt. Mit lyrischen Titeln wie „Herbstleuchten“ (S. 22) oder „Naturbaden“ (S. 9/13/31/34) verstärkt sie den Bezug zu Dynamiken der Natur gleich auf mehreren Ebenen. 

Naturbaden No. 3, Mona Rühle, 2023, Pigmente, Bitumen, Steinmehl, Sand, Resin auf Holz, 60 x 80 cm (Rechts Detailansicht)

Es tropft, es fließt, es splittert, es zieht Nebel auf – ­jedes Werk birgt eine andere Assoziation und ist ­verbunden mit den Kräften der Natur, erzählt eine ­Geschichte. Mal meinen wir Landschaften, mal Teile einer Baumrinde zu erkennen, letztlich stellt Mona Rühle aber keine konkreten Themen dar. Wie sie selbst ­beschreibt, sind es „naturzentrierte Reisen auf der Leinwand“ oder „Streifzüge durch Erdtöne und Holznoten“. So gesehen schafft sie ein Stück Natur im ­Gedanklichen wie im Materiellen. In ihrer Verbundenheit zum Ursprünglichen und zum Wesentlichen kann daher auch eine Verwandtschaft zu Manuela Tirlers Eisenskulpturen gesehen werden. Beide Künstlerinnen stellen vornehmlich ­unbehandelte Materialien ins Zentrum und verbildlichen organische Vorgänge durch eine Formensprache, die sich aufs Wesentliche konzentriert – wenn auch in völlig unterschiedlicher ästhetischer Weise. 

Impressionen der Vernissage am 21.09.2023

Ein Material, das Mona Rühle in fast jedem Werk verwendet ist das älteste Mineralölprodukt – Bitumen. Aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet es so viel wie „Erdpech“ und besteht aus Millionen verschiedener organischer Verbindungen, die sich wiederum über Jahrmillionen aus organischen Ablagerungen des Meeres gebildet haben. Schon in seiner Entstehung vermittelt es daher Vergänglichkeit. Das tiefschwarze Material, wie es bspw. in Mona Rühles Arbeit „Sturmflut“ (S. 40) deutlich sichtbar wird, kommt in einigen Sedimentgesteinen und ­in Naturasphalt vor, entsteht aber auch als Rückstand aus der Verarbeitung geeigneter Rohöle. Bitumen kann somit als Brücke zwischen uralten geologischen Vorgängen und der modernen Rohstoffverarbeitung gesehen werden.

Impressionen der Vernissage am 21.09.2023

Für Mona Rühle dient es wiederum als eigenständiger Energieträger, der sich mit seiner zähen Masse durch die zahlreichen Malschichten arbeitet und mithilfe diverser Spachtel, Pinsel, Steinmehle, erdiger Pigmente und Blattgold zu einer dichten Materiallandschaft mit individueller Patina fügt. Obwohl Mona Rühle in der Fläche arbeitet, entstehen so Bilder mit großer Tiefenwirkung und farblicher wie haptischer Räumlichkeit, was die Arbeit „Salbei“ (S. 29) beispielhaft zeigt. Bei diesem Vorgang spielt auch der Zufall in dirigierter Form eine Rolle, da sich Bitumen nicht in Wasser löst und seine Wirkung auf die selbst angerührten Farben kaum beeinflussbar ist. Die Künstlerin arbeitet demnach in engem ­Austausch mit der eigenen Aussagekraft des Materials. 

Vernissage 21.09.2023 – Begrüßung durch Nadine Müller (links) und Einführungsrede durch Julia Berghoff (rechts)

Der bewusste organische Ausdruck steht wiederum in enger Verbindung mit dem Eindruck des Vergänglichen, mit einem Gespür für Werden und Vergehen. Nicht ohne Grund erscheinen manche Arbeiten etwas verwittert, als wurden sie den Kräften der Natur ausgesetzt und tragen nun ihre zum Teil schroffen Spuren – denn Mona Rühle arbeitet häufig im Freien. Ihre Werke haben Witterungen wie Sonne, Regen, Schnee und Wind erlebt, worin sie zu Sinnbildern unseres Alltags werden. Auch wir stehen jeden Tag vor neuen Herausforderungen und sind doch gleichzeitig Teil verschiedenster Naturkreisläufe. 

Entsprechend sind Mona Rühles Bilder voller Dynamik und Expression, bieten ­allerdings gleichzeitig auch Raum für Kontemplation. So wechselhaft und unstetig die Kräfte der Natur walten, so überraschungsreich gestaltet sich auch das Betrachten der Werke. Ihre unebenen Oberflächen gleichen mal Steppen- oder Gebirgslandschaften, als stünde man vor einer großen Landkarte. Die fast lebensgroßen Formate von bis zu 1,80 m nehmen dabei das ganze Blickfeld ein und bestärken so ein räumliches Empfinden. Das Betrachten selbst wird hier zur körperlichen Erfahrung. 

Nadine Müller (2.v.l.) und Julia Goll, MdL (1.v.l.) im Gespräch mit den Künstlerinnen Mona Rühle (1.v.r.) und Manuela Tirler (2.v.r.)
Purple Rain, Mona Rühle, 2019, Pigmente, Asche, Sand, Steinmehl, Blattgold auf Leinwand, 140 x 180 cm (Rechts Detailansicht)

So vermittelt bspw. die Arbeit „Purple Rain“ (S. 10) einerseits das Gefühl einer monumentalen Gebirgswand, in der verschiedenste Gesteinsschichten und Mineralien aufeinandertreffen, andererseits strahlt es durch seine brillanten Magenta- und Violettfärbungen auch eine Freude und innere Wärme aus. Mona Rühle geht es eben nicht nur um das, was wir sehen können, sondern auch wie es das Herz berührt: Wie Farbe Erinnerungen hervorruft, wie Strukturen Gefühle vermitteln oder wie Linien eine Verbindung schaffen können – und das nicht nur formal. Diese vielfältigen „Berührungen“ zuzulassen ist wiederum die Aufgabe jedes Betrachters selbst. Mona Rühles Gemälde schüren und ­erfüllen eine Sehnsucht, ein Verlangen nach Unmittelbarkeit und Freiheit. Eine Freiheit wie wir sie in den Dynamiken der Natur, aber auch in der Formensprache der Kunst finden. Gleichzeitig verkörpern die Werke auch eine Form der Achtsamkeit. Denn Naturerfahrungen zu erleben bedeutet, sich Zeit zu nehmen und sie mit allen Sinnen zu spüren. Einen Moment innehalten, eine Wolkenformation beobachten oder dem Rauschen des Waldbaches lauschen ist eine befreiende ­Erfahrung und lehrt uns, unsere Umwelt als Energiequelle wahrzunehmen. Diese Sensibilität dient Mona Rühle als Grundlage und Ideengeber für ihre Malerei, was die Werke zu einem Stück gefühlte Natur werden lässt. 

Impressionen der Vernissage am 21.09.2023

In der Pfalz zwischen Weinbergen und Wäldern aufgewachsen, konnte Mona Rühle ihre Naturverbundenheit schon früh entdecken und bestärken. Heute verbinden sich befreiende, expressive und spontane Malerei mit strukturierten und bewussten Arbeitsprozessen und finden ihren Höhepunkt in neuen Serien wie „Naturbaden“ und „Seeds of Life“. Ihr langjähriger Aufenthalt in Dubai und Kuwait hinterlässt seine Spuren durch die Verwendung von versteckten Ornamenten und wüstenähnlichen Farben. Die Arbeit auf einer Segelyacht mit ­wochenlanger Blauwasser-Überfahrt durch Starkwind und mannshohe Wellen sowie die Begegnung mit einem Blauwal, spiegeln sich noch heute in Ihren ­Gemälden wider, was nicht nur in Titeln wie „Oceanview“ (S. 15), „Sea Breeze“ (S. 50) oder „Land in Sicht“ (S. 4) deutlich wird, sondern als Grundlage ihres ganzen künstlerischen Schaffens dient.

Impressionen der Vernissage am 21.09.2023

Mona Rühle und Manuela Tirler übersetzen Natureindrücke in unterschiedlichste Materialien, gehen dabei aber auch über die Natur hinaus und schaffen eigenständige Gebilde, die natürliches Chaos mit Struktur und Klarheit koppeln. Ihre Werke bewegen sich somit in einem dynamischen Spannungsfeld, das sich auch den Kräften der Natur nährt und sie gleichzeitig symbolisiert. 

Julia Berghoff
Künstlerische Leitung Kunstverein Reutlingen
September 2023

 

Zur Ausstellung ist ein 64-seitiger Katalog erschienen:

Ausstellungskatalog, Skulptur trifft Malerei, Mona Rühle und Manuela Tirler

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