Beschreibung
Destilliertes Leben
Man geht allgemein davon aus, dass 99% der Dinge, die wir pro Tag tun, eine automatische Reaktion sind. Das heißt, wir gehen durch den Tag, indem wir die Welt um uns bequem vereinfachen. Wir vereinfachen Dinge zu gewöhnlichen Formen, Bildern, Phänomenen: rot, leuchtend, flackernd, Flagge. Wir machen nicht Halt, um darüber nachzudenken warum diese Fahne, warum rot, warum passen diese Dinge zusammen oder warum überhaupt existieren diese Dinge hier in dieser Form; wir haben einfach nicht die Zeit dazu. Was ist letzten Endes ungewöhnlich an all diesen gewöhnlichen Dingen?
In dem anderen 1% der Zeit sagen oder registrieren wir Dinge, die besonders, einzigartig, voller wundervoller kleiner Momente oder sogar nachhaltiger Bedeutung sind. Feng Yans Fotographien zwingen uns, dieses 1% zu erhöhen, die Dinge, die uns umgeben zu beachten und zu überdenken, warum diese Details bedeutsam sind. Durch minimalistisches Beschneiden und die vorsichtige Wahl des Tons, der Form des Themas gelingt es ihm, diese Momente zu persönlicher Aussagekraft, historischer Anspielung und politischer Bedeutung zu machen. Er mischt schöngeistige Freude an starken Kompositionen und düsteren Tönen mit Andeutungen in Richtung der tieferen Bedeutung der unterschwellig manipulierten Symbole, die uns tagtäglich umgeben.
In seiner Serie „Power–Macht“ taucht Feng Yans Auge mit einfühlsamer Neugier ein in die Symbolik der Volksrepublik China. Die große Halle des Volkes stellt den Betrachter an den Fuß einer einschüchternden roten Treppe. Aus dieser niedrigen Perspektive gesehen, türmen sich die blutroten Stufen auf und führen zu dem schmalen goldenen Horizont am oberen Ende des Bildes. Und von unserem Blickwinkel aus wissen wir ohne jeden Zweifel, dass wir – um diese Olympischen Höhen zu erklimmen – die Fähigkeiten eines Gottes unter den Sterblichen benötigen. Mit einer ähnlichen Einfachheit der Form, drängt uns das Bild „Autotür“ an die Flanke der Staatslimousine des großen Vorsitzenden Mao. Ob wir wissen, dass es das Auto des großen Vorsitzenden ist oder nicht, ist dabei unwichtig. Unsere Beziehung zu der Autotür ist aufgebaut; sie verschließt sich fest vor uns, der normale Betrachter ist vom Eintritt ausgeschlossen. Indem er das Bild gleichmäßig entlang der horizontalen Achse der silbernen Karosserie teilt, lenkt Feng Yan unsere Aufmerksamkeit auf beides, den Griff und die stummen Reflektionen auf den tief dunkel getönten Scheiben. Die untere Hälfte des Bildes bietet einen potenziellen Zugang, während die obere Hälfte dem Voyeur in uns vermeintliche Möglichkeiten bietet, allerdings wird hier nur unser Blick von der hochglänzenden schwarzen Oberfläche reflektiert. Diese Bilder erregen uns angenehm durch ihre starken Farben, Licht und Formen und lenken unsere Aufmerksamkeit auf die etablierten Hierarchien, die uns allgegenwärtig umgeben.
Aber der Minimalismus von Feng Yans Serie „Macht“ erreicht seinen Höhepunkt mit „Die vier Flaggen“ einem zentrierten Raster aus vier Blöcken, vielleicht die Seitenansicht einer Plakatwand oder eines Schildes. Vier rote Rechtecke, bar jeglicher Dekoration, Flaggen genannt, könnten für beliebig viele Ländern stehen oder für unzählige andere Bedeutungen. Noch während wir die simplen Farbveränderungen auf den vier Segmenten bestaunen, braut sich aus unserer Neugier eine gewisse Unsicherheit zusammen. Schließlich sind wir ganz versessen darauf zu wissen, was dieser rote Kreuzpunkt ist: ein rotes Kreuz, eine Naht in einer Fahne, oder etwas ganz anderes?
Eben durch genau diese anscheinend simple Wahl von solch minimierten Inhalten zieht Feng Yan unsere Vorstellungskraft in die launischen, sich verändernden Facetten seiner Arbeit, die sie dann zurückreflektiert, damit wir die größeren Dimensionen in den Ausschnitten unseres täglichen Leben beachten.
Feng Yans Untersuchungen zielen auch auf private Bereiche und dann ebenfalls mit einer ähnlich tiefgehenden Betrachtung. Mit „Inside Drawer – Im Schrank“ werden wir in einen viel persönlicheren Bereich eingeladen. Ein Bündel rosafarbener Handschuhe, Tücher und Teetassen mit Deckel zeigen eine zarte Schablone des täglichen Lebens, vielleicht eine Pause bei der Hausarbeit oder die Suche nach dieser bestimmten, schwer fassbaren Notwendigkeit, die sich am Boden eines solchen Schrankes verbirgt. Die Farben und Texturen der Objekte zeigen ein Bild, sofort und unerklärlich wieder erkennbar, wie aus einem chinesischen Haushalt. Jedoch ist da nichts was schreit „Ich repräsentiere das zeitgenössische China“. Mich als Ausländer bringt es aber dazu zu ahnen, welchen Bereich in einem chinesischen Heim dies verkörpert.
Durch starke, minimalistische Kompositionen und die feinsinnige Wahl von Form und Licht erinnern uns die Bilder von Feng Yan daran, die Details der Welt um uns herum mit größerer Sorgfalt zu erforschen. Durch seine puristische Form erkennen wir, dass in unserem täglichen privaten und öffentlichen Leben eine Reihe von Bedeutungen – von Politik bis zu historischen Bedeutungen – existieren, die wir nur selten ganz bewusst sehen. Indem er das Alltägliche bedeutend macht und oft übersehene Details durch gezielten Minimalismus hervorhebt, befruchtet Feng Yan beide Bereiche – den privaten als auch den öffentlichen – mit der Andeutung einer Bedeutung. Seine Aufnahmen bieten eine viel subtilere Sicht dessen, was es jeden Tag bedeutet, ein moderner Chinese zu sein mit einem bestimmten Menge an historischen und zeitgenössischen Spannungen, die sich auf die ganz normalen Momente in China auswirken.
Michael J. Hatch