Neumeier / Henkel – Kontrollierte Zufälle

Von Rainer Neumeier und Christian Henkel

Sprache: Deutsch 
Inhalt: 54 Seiten, farbig
Format: 14,8 x 21 cm, Softcover
Erscheinungstermin: 11.04.2024

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Beschreibung

Einführung zur Ausstellung von Marco Hompes

Malerei als Ereignis oder: Kontrollierte Zufälle
Über die Kunst Rainer Neumeiers und Christian Henkels

Wenn Betrachter*innen Rainer Neumeiers Werken das erste Mal begegnen, dann werden bei ihnen schnell unterschiedliche Assoziationen wachgerufen. Auf den ersten, entfernten Blick erinnern einige der Bilder des Berliners an ­pixelige Bildschirme, andere an Siebdrucke, einige an Strukturen unter dem Mikroskop, andere an Action Paintings… Was sich jedoch aus der Entfernung nicht bestimmen lässt, ist die Technik, die den Bildern zu Grunde liegt. Aus ­diesem Grund wird man in Ausstellungen mit Gemälden Neumeiers beobachten können, dass das Publikum ganz nah an die Bilder herantritt und sie inspiziert. Doch auch aus der Nähe wird nicht gleich klar, welche zum Teil äußerst aufwendigen Verfahren und welche Zeit hinter den finalen Bildern stecken. Auch die immer fünfstelligen Titel aus Buchstaben und Zahlen, die eher an sichere Passwörter oder Sicherheitscodes erinnern, ­geben ­keinen ­Aufschluss, weder über die Motivation des Malers noch über eine wie auch immer geartete Bild­aussage. Doch der genaue Blick gibt auch ­Hinweise. So lässt sich entdecken, dass die Kanten der Werke nicht scharfkantig sind, sondern sich nach außen dehnen. Auf Seite 28 in ­dieser Publikation, z.B. bei KJ8LP, kann man erahnen, dass die Ränder seitlich ausfransen, was darauf schließen lässt, dass sämtliche Werke mit Farbe, genauer gesagt mit Acrylfarbe geschaffen sind.

Sie ist Neumeiers primäres künstlerisches Medium. Anders als man es vielleicht sonst in der Kunstgeschichte gewohnt ist, dient die Farbe ihm jedoch nicht dazu eine bereits festgelegte oder angedachte Komposition zu gestalten. Neumeier begreift sein Vorgehen eher als Versuchsanordnung, ein Spiel aus Zufall und Kontrolle. Konkret sieht das so aus: Basis für seine Werke bilden Holzplatten. Darauf wird eine Textur gelegt, die mit Farbe eingearbeitet wird. Das kann ein Meshgewebe, ein grober Jutestoff, eine Schablone oder ein Raster sein. Statt einer planen Fläche wird hier also mit einem Relief gearbeitet.

Das Publikum, das noch immer versucht zu begreifen, wie das Bild nun ­gemacht wurde, wird dieses Relief in den meisten Fällen aber nicht mehr ­sehen und auch nicht mit den Fingern erspüren können. Das liegt zum einen daran, dass Neumeier beginnt, die Höhenunterschiede durch Farbe auszugleichen. Von allen vier Seiten her malt er mit verdünnten Farben auf den texturierten Untergrund. Diese fließen in die Freiräume und suchen sich so ­ihren Weg durch die vorgegebene Textur. Schicht um Schicht um Schicht, mal sind es 20, mal 200, wird der ­Untergrund intuitiv verdichtet. Dieses meditative, ständig sich wiederholende und zu einem gewissen Teil schon performative Vorgehen ist zeitaufwendig. Manche Bildwerke brauchen 12 Monate ehe sie fertig sind.

Dass die finalen Stücke am Ende meist glatte Oberflächen haben, liegt auch an einem weiteren Schritt, der beinahe schon skulpturale Qualitäten besitzt. Mit einem selbstentwickelten Gerät, auf das verschiedene Klingen angebracht werden können, werden höher gelegene Schichten abgetragen, ein Prozess, den der Maler selbst als geologischen Schnitt ­bezeichnet. Dadurch tritt etwas, das nicht mehr sichtbar war, wieder in den Vordergrund. Je nach Bewegung und Breite der Klingen, ergibt sich eine neue Struktur, welche die Komposition rhythmisiert. Oben und Unten, Struktur und Fließen, Ordnung und Zufall werden zu einem ­großen Ganzen. Die beschriebene künstlerische Strategie des ­ge­bürtigen Oberpfälzers erklärt die Vielfältigkeit der ­Neumeierschen ­Bildwelten, lässt aber auch erahnen, wie ein Bild sich ganz nach subjektiven Maßstäben im Verlauf entwickelt. Y5V45 und UE79Q [S. 23] sind etwa Beispiele für Werke, bei denen das strukturierende Raster als Basis erhalten bleibt, während die Farbe in zarten Verläufen die Ordnung umspielt. Einige Arbeiten sind gänzlich in den Nichtfarben Schwarz und Weiß gehalten, während andere, etwa BVUKL [S. 17] Farbexplosionen gleichen. Mal durchdringen sich ­organische und geometrische Flächen, mal leuchten tieferliegende Farbschichten wie bei einem Wärmebild aus dem ­Untergrund. Die Vielfalt ist, trotz sich ­wiederholender technischer Grundlagen, beeindruckend. Doch Rainer Neumeier begnügt sich nicht mit der Wiederholung eines einmal gefundenen Verfahrens. 2011 etwa zerstörte er die glatte Oberfläche einiger Bilder wieder. Nachdem die letzte Farbschicht auf­getragen und ­getrocknet war, nahm der Künstler eine Cutterklinge und schnitt damit Stücke und Bahnen heraus, sodass eine geschnittene, skulptural an­mutende Fläche entstand.

Übrigens sind ausgeschnittene oder abgeschabte Teile nicht unbedingt ein Fall für den Papierkorb. Den Abraum, wie es der Künstler selbst nennt, sammelt er und bewahrt ihn auf. Sortiert, gesiebt und ausgewählt kann dieser schließlich erneut eine strukturbildende Aufgabe in einem neuen Bild übernehmen. In zwei Aggregatzuständen, flüssig und fest, wird die Acrylfarbe nun zu etwas Neuem. Das Ergebnis ist überraschend, würde man doch glauben, dass am Ende, wenn die flüssige Farbe fest geworden ist, kaum ein Unterschied ­zwischen ­Altem und Neuem auszumachen wäre. Doch schaut man genau, wird man feststellen, dass diese sich doch voneinander unterscheiden. Haben die ­Betrachter*innen, die ganz nah mit den Augen das Bild inspizierten nun die Technik verstanden, können sie zurücktreten und erneut das jeweilige Kunstwerk in seiner Gänze betrachten, die Farben auf sich wirken lassen und mit dem Blick von einem Farbereignis zum nächsten springen.

In den Räumen des Neuen Kunstverlags Waiblingen treffen Neumeiers Werke auf Arbeiten des Künstlers Christian Henkel. Erstaunlicherweise harmonieren beide Bildsprachen recht gut miteinander, obwohl man auf den ersten Blick, sieht man einmal von der Ungegenständlichkeit ab, wenig schlagkräftige ­Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ansätzen benennen könnte.

Dabei gibt es durchaus Verbindungslinien zwischen beiden Künstlern. Eine ­davon, ohne hierbei einen Kontext erzwingen zu wollen, ist der künstlerisch ­gelenkte Zufall, durch den sich bei beiden ein Neben- und Miteinander von ­rationalen Strukturen und solchen, die ihre eigene Präsenz einfordern, ergibt und auf den beide intuitiv reagieren. Wie das bei Rainer Neumeier funktioniert, ist bereits oben beschrieben worden. Bei Christian Henkel funktioniert dieser ­Aspekt ein wenig anders. Um sein künstlerisches Denken zu begreifen, lohnt ein Blick auf das Werk Singing Sun (rot) von 2014 [S. 7]. Zu sehen ist ein hochkant ­stehendes, 1,60 Meter ­hohes Konstrukt aus verschiedenen Holzelementen, die miteinander ­verschraubt sind. Im unteren Bereich steht das Gebilde auf vier Metallbeinen, oben wird es von einer gebogenen Kupferplatte abgeschlossen.

An dieser Arbeit lassen sich exemplarisch mehrere Aspekte im Schaffensprozess des Berliners ­erläutern. Die vier Beine, auf denen der Kasten steht, erinnern nicht nur an Möbelstücke. Manch ein*e Betrachter*in wird sich womöglich an eigene Einrichtungsgegenstände erinnern, die auf solchen Beinen standen. Tatsächlich stammen sie von ausrangierten Möbeln. Obgleich er schon in seiner Kindheit von Sperrmüll fasziniert war, so fand Henkel während eines Stipendiums in ­Amsterdam zur Arbeit mit Aussortiertem. Mit wachem Auge durchwandert der Künstler die Stadt und entdeckt in Weggeworfenem, das manch andere wohl kaum eines Blickes würdigen ­würden, ein bildnerisches und skulpturales Potenzial. In seinem Atelier erhält es dann eine neue Existenz und wird Teil von Kunstwerken. Einen konkreten Plan hat der Berliner dabei allerdings nicht. ­Entdeckt er eine markante Form auf dem Sperrmüll, dann ist ihm nicht klar, was aus ihr werden wird.

Oftmals entwickelt er zwar vorab eine grobe Idee. Die verändert, konkretisiert oder verwirft sich jedoch im Prozess des Arbeitens gerne einmal wieder. Henkels Ansatz ist ein spielerischer Umgang mit existierenden Materialien, der von der Lust am Gestalten und Kombinieren sowie von einer Empfindsamkeit bei der Formfindung zeugt. Neben den Verweisen auf Inneneinrichtungen erinnert ­Singing Sun (rot) zudem an Architektur. Diese Assoziation wird zum einen durch die aufstrebende Form und die verschraubten Holzplatten, zum anderen aber auch durch das runde „Kuperdach“ evoziert. Zudem wird die gebogene Metallstruktur auf ­einer Seite noch durch eine gemusterte Holzleiste begrenzt, die an Gestaltungselemente des Jugendstils oder der Gründerzeit erinnert. Sind nun die Objekte Henkels ein Kommentar auf Architekturen der Geschichte? Ja und Nein. Sie sind es insofern als das sie über die kulturelle Bedeutung von Häusern und Gebäuden nachdenken lassen und danach fragen, wie sich jede Zeit durch sie ausdrückt. Wodurch sich die möbelhaften Architekturen Henkels von realen Gebäuden unterscheiden, ist allerdings ihre Zwecklosigkeit. Man kann sie nicht bewohnen, nicht in ihr Inneres schauen, sie tragen keine ein­deutigen historischen Spuren und lassen sich nicht einer Epoche zuordnen. Mit ihrer Höhe von 1,60 Metern sind sie für einen durchschnittlichen Erwachsenen auch etwas zu klein. Da die Arbeit jedoch an menschliche Maße heranreicht, begegnen wir ihr körperlich. Das ist auch notwendig, da man sie von allen Seiten umschreiten kann und soll.

Hierbei wird noch ein dritter zentraler Punkt deutlich: die Farbe. Auf der Rückseite leuchten verschiedene, intensive Rottöne. Kompositorisch akzentuieren Dreiecksformen die Vertikalität des Werks. Auf der Vorderseite treten Weiß, Magenta und Blau miteinander in den Dialog, strukturiert von Linien und Streifen, währen die Seite in Orange einen reizvollen Kontrast bietet.

An dieser Stelle könnte man fragen, ob man Henkel überhaupt als Bildhauer betrachten sollte oder ob er nicht doch eher ein Maler ist, der in einem kombinatorischen Verfahren Farbflächen in den Raum erweitert. Ist er also ein ­malenden Erbauer oder ein bauender Maler? Dem Künstler selbst ist die Frage herzlich egal. Denn Schubladen interessieren ihn nicht. Das Material soll für sich sprechen und durch sein künstlerisches Zutun einen Klang entwickeln, bei dem Farbe, Form und Raum miteinander interagieren. Hauptsache es wird nicht zu verkopft.

Der gebürtige Thüringer will keine intellektuellen Überhöhungen, ebenso meidet er alles, was zu hermetisch, klinisch oder exakt wird. Bei den räumlichen Arbeiten ist das schnell zu begreifen. Bei den Leinwand­gemälden, die er in Waiblingen erstmals in diesem Umfang zeigt, muss man eventuell zwei Mal schauen. Einige der Werke, etwa das auf Seite 18 abgebildete der Reihe A sculpture is a painting is a building erinnern durch ihre klar ­akzentuierten Linien an die Hard Edge Malerei der 1960er oder an Gemälde des Künstlers Thomas Scheibitz. Ein genauerer Blick macht aber sehr schnell ­deutlich, dass Henkels Ansatz sehr viel freier ist. Linien und Flächen werden nicht mit Klebeband abgeklebt, um perfekt abgegrenzte Flächen zu erhalten. Wenn schon, dann wäre Klebeband als ­gestaltgebendes Material für den Künstler ­interessant, wie man es bei seinen neuen Material­bildern [S. 35] erwarten könnte. ­Seine Linien malt Henkel stattdessen mit ­Leisten. So kann es vorkommen, dass eine Farbe sich mit einer anderen mischt oder Farbspuren früher gemalter Linien in neueren einen Wiederhall finden. Und genau in diesen Details wird es spaßig.

Bleiben wir bei dem Beispiel auf Seite 18. ­Insgesamt ist das Werk in Grün- und Blautönen gehalten. Keine Komplementärfarbe provoziert ­einen farblichen Kontrast. Dunkle ­Linien ­umranden einzelne Formen, wodurch ein ­harmonischer, aufgeräumter Gesamteindruck entsteht. Doch diese Ordnung wird durch kleine Details gebrochen. Die große grüne Fläche etwa wagt sich beispielsweise zaghaft als feine handgemalte ­Linie in das Hellblau. Im ­Gegenzug macht sich ein etwas dunkleres Hellblau an am grünen Feld zu schaffen. Zum einen als noch oben, parallel zum weißen Rechteck verlaufende Linie, zum anderen als Farbspur und -mischung im unteren Teil der grünen ­Fläche. Immer wieder werden Farben gemischt, interagieren miteinander, ­laufen frech in eine andere Richtung oder spiegeln sich in ­angrenzenden ­Flächen. Ähnlich verhält es sich mit kleineren Metallarbeiten jüngeren Datums [etwa S. 25]. Sie zeugen von Henkels malerischen Farb­gespür, sind gleichsam aber wie Zeichen im Raum, die durch die Kombination von Formen und Linien eine ­erzählerische Poetik erhalten.

Abschließend lässt sich sagen, dass der Neue Kunstverlag mit Rainer Neumeier und Christian Henkel zwei eigenständige und spannende künstlerische Positionen präsentiert, die beide durchaus ungewöhnliche Perspektiven auf das Medium ­einnehmen. Gemein haben sie dabei, dass der Weg zum finalen Werk durch ­einen Prozess geprägt ist, in dem der Zufall zum Tragen kommt, bei dem nicht alles im Vorfeld geplant werden kann, der von beiden aber durch Intuition, ­Gespür und durch technische Erfahrungen geleitet und zum Ziel geführt wird.

Marco Hompes
Leiter Kunstmuseum Heidenheim
April 2024