Goda Plaum

Von Goda Plaum

Sprache: Deutsch & Englisch
Inhalt: 80 Seiten, farbig
Format: 29,7 x 21 cm, Softcover
Erscheinungstermin: 20.11.2020

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Beschreibung

It’s night time in the big city. Die Bilder der Goda Plaum

Es ist Nacht in der großen Stadt. Die Lichter der Häuser und Ampeln glitzern auf dem nassen Asphalt. Die Rücklichter der Autos irren durch die Hitze der Nacht. Goda Plaum ist Malerin. Sie ist Kunstpädagogin und promovierte Bildwissenschaftlerin.

Ihre Bilder sind keine ‚Portraits‛ von Straßenszenen oder Landschaften, sondern durch mehrere Phasen reflexiver Brechungen hindurch gegangen, bevor sie zu Gemälden wurden, nämlich durch die Medien der Fotografie und der Skizze. Die nächtliche Szenerie, die sich der Künstlerin in ihren Spaziergängen mit allen Sinnen gleichzeitig in räumlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht darbot, wurde am 19.7.2018 – kurz nach Mitternacht – mit einer Canon EOS 70D Spiegelreflexkamera in verschiedenen Aufnahmen im Medium der digitalen Farbfotografie fixiert. Insgesamt sind in dieser Nacht 60 Aufnahmen entstanden. Durch den Akt des Fotografierens wird die simultane, sich stets verändernde Dynamik von Raum, Zeit und Sinneseindrücken stillgestellt und in einen Moment kondensiert. Das dynamische Fließen der umgebenden optischen Anordnung wird wie in einem Präparat ‚eingefroren‛ und von den restlichen Sinnen isoliert. Die Fotografie ist eine Sichtbarkeits-Isolierungsmaschine. Im wahrsten Sinne des Wortes wurde die Szene zu einem Still. Wie in einem zoologischen Präparat re-präsentieren sich in der Aufnahme gefrorene Zeit, gefrorener Raum und isolierter Blick. Die digitale Farbfotografie bildet die erste, fundamentale Übersetzung der Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit in das Medium des Bildes.

Nur wenige der vielen Fotografien genügen für den nächsten Schritt. Von der nächtlichen Aufnahme ausgehend, fertigt Plaum zunächst eine kleine Acrylskizze in dem quadratischem Format 20 × 20 cm an (siehe S. 11). In diesem zweiten und entscheidenden Übersetzungsschritt, der von der digitalen Fotografie in das Medium der Malerei erfolgt, wird das Dargestellte erneut kondensiert und transformiert. Die diskontinuierliche Materialität der digitalen Fotografie wird vollständig durch das kontinuierliche, analoge Medium von Papier, Pigment und Bindemittel substituiert. Das Seitenverhältnis 6 × 9 wird in der Horizontalen gestaucht und flächig verdichtet. Die Vertikale gewinnt dadurch an Bedeutung. In dem schließlich ausgeführten Gemälde im Format 100 × 100 cm trägt die Künstlerin Farben in einem freischwebenden, flächigen Auftrag mit punktuellen Setzungen auf (siehe S. 11 & 29). Sie gibt der Farbe den Vorrang vor der Form. Dies ist eine bewusste gestalterische Entscheidung, welche später die Konstruktion des ästhetischen Gegenstandes durch den Betrachter beeinflussen wird. Erst der Betrachter erzeugt in seiner emotional-kognitiven Wahrnehmungssynthese einheitliche Formen und Objekte. Er transformiert mithilfe der autochthonen Kraft seiner Gestaltwahrnehmung die frei schwebenden, flirrenden Farbflächen in ein einheitliches und kohärentes Panorama der gemalten Szenerie. Die Räumlichkeit des dargestellten Bildes entsteht also erst in den biologisch-chemischen und mentalen Prozessen des Betrachters. Dasselbe geschieht mit der Konstruktion von Zeit. Denn die Nachtbilder suggerieren eine enorme zeitliche Ausdehnung. Nicht nur, dass der ästhetische Wahrnehmungsvorgang selbst in der Zeit stattfindet und Zeit benötigt, um zu einer gestaltvollen Wahrnehmungssynthese zu gelangen. Vielmehr konstruiert der Betrachter in seinem ästhetischen Erleben nicht nur ein einheitliches, räumliches Bild, sondern ebenso eine einheitliche, zeitliche Sequenz. Der dargestellte Moment wird, indem er im emotional-kognitiven System des Betrachters synthetisiert wird, in ein Kontinuum des Kurz-Davor und des Gleich-Danach ausgedehnt, das durch die optische Anordnung der farbig strukturierten Oberfläche des Bildes suggeriert wird. Damit wird das Bild in einen, wie Husserl sagen würde, retentionalen und protentionalen Horizont aus Erinnerungen und Erwartungen eingebettet, die sich im Hier und Jetzt der ästhetischen Wahrnehmung mit der Gegenwart der Darstellung verspannen.

Dasselbe Prinzip gilt für die Serie der Seestücke von 2012 (siehe S. 54–57). Auch hier hat die Künstlerin mithilfe von digitalen Fotografien, die mit einer kleinen Canon PowerShot A1200 aufgenommen wurden, die sich ständig verändernden Reflexe der Wellen an der Wasseroberfläche in statische Muster übersetzt. Sie hat dabei eine fotografische ‚Phänomenologie‛ von ruhiger Wasseroberfläche, leichter Wellenbewegung bis hin zu starkem Wellengang erstellt (siehe S. 13). In einem zweiten Schritt wurden einige dieser Fotografien ausgewählt und in kleine Acrylskizzen übersetzt, die eine erste malerische Formulierung der Wellenoberflächen darstellen. Ergänzend dazu sind weitere Skizzen direkt vor Ort am Seeufer entstanden, die dann ihre weitere Ausführung in den beiden Gemälden Wasser 1 und Wasser 2 aus dem Jahre 2016 finden (siehe S. 15).

Mithilfe fotografischer Schnappschüsse, die am Strand entstanden sind, hat sie verschiedene typische Badesituationen festgehalten – planschende Kinder, eine Frau auf der Luftmatratze, einen älteren Herrn, der bis zu den Knien im Wasser steht. Insgesamt sind 157 fotografische Studien entstanden. Einige Figuren wurden für die Seestücke aus ihrem fotografischen Umfeld isoliert und in eine abstrakte, beruhigte Wasseroberfläche eingesetzt. Auf diese Weise führt die künstliche Synthese zweier grundlegend verschiedener Bildsysteme sowohl zu einer Abstraktion als auch zu einer Konzentration des Dargestellten. Das Verhältnis des gemalten Körpers steht in seiner cremig orangenen Farbigkeit komplementär zu der fast monochromen Wasserfläche. Die Darstellung erscheint wie mit einem Teleobjektiv aus der Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit herausgeschnitten. Das framing ist aber auf eine ganz bewusste Art und Weise konstruiert. Es existiert so nicht in der Realität des Badeurlaubes, sondern nur in der Realität des Bildes. Eine isolierte Figur ist in ein unendlich abstraktes, hellblaues Umfeld eingebettet. Es isoliert die Person vom Rest der Welt. Es stellt sie frei. Die Bewegung der Badenden und die Dynamik der Wellen werden auf Dauer gestellt. Sie wirken wie für die Ewigkeit eingefroren.

Diese spezifische Kondensationstechnik führt zu einer anderen Gruppe von Werken, den so genannten Bildobjekten. In ihnen verwendet Goda Plaum verschiedenfarbige Realien wie farbiges Papier, farbigen Karton, Plastiktüten oder farbige Textilstücke, die sie sammelt, zuschneidet, collagiert und anordnet, so dass der Eindruck einer räumlichen Situation und eines fast abstrakten Gemäldes entsteht.

Im Werk von Goda Plaum lassen sich zwei verschiedene methodische Ansätze beobachten. Der eine ist der virtuose Umgang mit Farbe im Medium der Acrylmalerei, der zweite ist das Arbeiten mit vorgefundenen Materialien wie farbigem Papier oder bedruckten Stoffen. Jenseits dieser beiden Methoden gibt es jedoch noch eine andere, verdeckte Thematik, die ihre künstlerische mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit verbindet und amalgamiert. Erst in diesem Underground treffen wir auf die entscheidende Erkenntnisleistung der Künstler-Wissenschaftlerin. Die durchgehende Fragestellung lautet: Wie fasst das emotional-kognitive System eines Betrachters die verschiedenen flächigen oder abstrakten Anordnungen von Farben und Formen syntaktisch und semantisch auf, und wie integriert es diese fragmentarischen Hinweise der umgebenden optischen Anordnung in ein einheitliches räumliches und zeitliches Gesamtbild? Im Prinzip geht es in den Werken der Künstlerin um Fragen der Wahrnehmung, der Gestaltbildung und der Aktualgenese von Bildern.

Wenn man sich dieses künstlerisch-wissenschaftliche Forschungsprojekt genauer ansieht, stellt man fest, dass es im Endeffekt um die Fragestellung geht, wie Bilder von Betrachtern gesehen werden, was im Prozess des Sehens passiert, und wie aus den fragmentarischen Hinweisen wie Farben, Flecken, Linien und Punkten ein einheitlich integriertes, räumlich und zeitlich kohärentes, mentales Gesamtbild erzeugt wird. Die persönliche Wahrnehmungssynthese ist jedoch von ständigem Zerfall bedroht. Bei genauerem Hinsehen erweist sich die eine oder andere Wahrnehmungskonstruktion als ambivalent oder irreführend. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die in den Bildern existierenden Leerstellen zu konkretisieren. Von daher gibt es ebenso viele Konkretisationen und Interpretationen, wie es Betrachter gibt.

Es geht darum, wie man Bilder sieht. Dabei tritt eine Erkenntnisarbeit zutage, die im sichtbaren Bild selbst nicht sichtbar ist, sondern nur im Prozess des Sehens entsteht, und danach auch wieder verschwindet. Das Sichtbare hat nämlich durchaus seine Grenzen. Wie die zwei Seiten einer Unterscheidung steht das Sichtbare in einer unauflösbaren Verbindung mit dem, was nicht sichtbar ist. Hinter dem Sichtbaren liegt das Nicht-Sichtbare genauso, wie hinter dem Sagbaren das Nichtsagbare liegt. Das Nicht-Sichtbare an einem Bild lässt sich nur durch Wissen erschließen, aber nicht durch die sinnliche Wahrnehmung selbst.

Man versteht die Bilder von Goda Plaum falsch, wenn man nur versucht, das Dargestellte zu identifizieren. „Aha, hier badet jemand im Wasser.“ – „Aha, hier fährt ein Auto in der Nacht um die Kurve.“ – „Aha, hier sieht man Pflastersteine und einen Gulli.“ Dieses schnelle, nur erkennbare Gegenstände identifizierende Sehen wurde von Max Imdahl 1974 als wiedererkennendes Gegenstandssehen und 1982 von Richard Wollheim als seeing-as bezeichnet. Imdahl hat diesem auf schnelles Wiedererkennen und sprachliche Benennung zielende Sehen ein autonomes, sehendes Sehen an die Seite gestellt, in dem es um die Wahrnehmung autonomer Formen, Farben und bildlicher Dynamiken geht, und aus denen sich, – und das ist das Entscheidende – der ästhetische Gegenstand konkretisiert.Bei Richard Wollheim ist dies als seeing-in bezeichnet worden. Er meinte damit eine Wahrnehmungseinstellung, die versucht, das Medium der Darstellung im Dargestellten mit zu sehen, also die Art und Weise, wie die Darstellung ‚gemacht‛ ist, eine Einstellung, die vor allem auf die Art des Gemachtseins eines dargestellten Inhalts achtet.

Die Frage, wie man dazu kommt, als Künstlerin eine philosophische Dissertation über das bildnerische Denken zu verfassen, kann nur mit den Begriffen Krise und Widerstand beantwortet werden. Plaum schreibt, dass sie an der Kunstakademie das Gefühl hatte, das Denken zu verlernen. Die Philosophie habe ihr Kunststudium gerettet. Sie ist nicht die Einzige, der es so ging. Thomas Mann hat 1954 in seinem „Versuch über Tschechow“ Anton Tschechow den Satz in den Mund gelegt, dass Unzufriedenheit mit sich selber die Grundlage jedes echten Talents sei. Die Unzufriedenheit mit sich selber oder dem Kunstsystem ist besonders in der Avantgarde ein zentraler Topos für Widerstand und Innovation gewesen. Künstler wie Donald Judd, Robert Smithson, Sol LeWitt oder Dan Graham haben durch ihre umfangreichen theoretischen Schriften erheblich zu einer Weiterentwicklung zentraler Fragestellungen der Kunst geführt. Gelten diese Feststellungen auch noch in der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts? Sind sie für die Künstlerin Goda Plaum von Belang? Kann man die theoretische Grundierung ihrer Kunst sehen oder kann man sie nur in ihren Texten wahrnehmen?

Die Kunst von Goda Plaum ist unweigerlich mit einer erkenntnistheoretischen Fragestellung verbunden. Wie sehen wir Bilder? Welche Funktion besitzen Kunstwerke für unser ästhetisches und gesellschaftliches Leben? Da die Künstlerin selbst promovierte Bildwissenschaftlerin ist, kann man ihre künstlerische Arbeit nicht von ihrer wissenschaftlichen trennen. Im Grunde genommen sind sie beide ein und dieselbe Art von Arbeit. Sie unterscheiden sich lediglich hinsichtlich des verwendeten Mediums und den sozialen Systemen, dem Kunstsystem und dem Wissenschaftssystem, in dem sie kommuniziert werden. Wenn man die Kommunikationssysteme vertauscht, könnte man ihr Buch „Bildnerisches Denken“ auch als künstlerisches Werk beschreiben, genauso wie man ihre Gemälde als wissenschaftliche Experimente interpretieren könnte. Irgendwann merkt man, dass die Positionen austauschbar und identisch sind. Lediglich die strenge Kontrolle der Reinheit der Disziplin zwingt uns den absurden Standpunkt auf, Kunst ohne Willen zur Erkenntnis und Wissenschaft ohne kreative Innovation konzipieren zu müssen.

Hans Dieter Huber