Beschreibung
Jeroen Cremers – Tauchfahrt ins Unbekannte
Die Ausstellung The Taste of Forbidden Fruit vereint verschiedene Werke des 1972 im niederländischen Reuver geborenen Künstlers Jeroen Cremers. Auf den ersten Blick könnten sie kaum unterschiedlicher sein: Keramiken mit schrundigen Oberflächen und partieller Lackierung treffen auf präzise und motivreiche Collagen. Ihnen begegnen andere Collagen, die mehr an gestische Malerei denken lassen und grotesk anmutende plastische Köpfe aus Karton. Trotz der ästhetischen Unterschiede lässt sich innerhalb der Bildwelt Cremers‘ ein wiederkehrendes und damit verbindendes Prinzip erkennen. Denn seine Motive entlehnt der Wahlberliner alltäglichen Objekten und Erscheinungen. Die Auswahl basiert häufig auf subjektiven Kriterien oder persönlichen Erinnerungen. Die gezeigten Motive werden von Cremers jedoch derart uminterpretiert, dass das scheinbar Vertraute ins Fremdartige kippt.
Die Bearbeitung durch Cremers kann dabei, je nach Medium, verschiedene Formen annehmen. Mal werden Gegenstände oder Körper ver- oder überformt, mal fragmentiert oder so miteinander kombiniert, dass sie eine ungewöhnliche, vielleicht sogar irritierende Wirkung entfalten. Indem der Niederländer dem Vertrauten etwas Fremdartiges entlockt, fordert er die Betrachter*innen dazu auf, den Geheimnissen oder besser: der Magie des Alltäglichen auf die Spur zu kommen. Ganz wird dies allerdings nie gelingen, weswegen sich eine Interpretation der Werke sprachlich im Bereich des Konjunktivs vollzieht. Das klingt erst einmal recht abstrakt, lässt sich jedoch anhand von ausgewählten Beispielen nachvollziehen.
Gut zu erkennen ist die Entfremdung des Alltäglichen beispielsweise an dem Werk Coffee grinder [dt.: Kaffemühle]. Zwar sind derartige Geräte nicht mehr wirklich häufig in Gebrauch, sie umweht jedoch noch immer eine gehörige Portion Nostalgie. Denn die meisten Menschen kennen diese Maschinen mit ihren typischen Kurbeln, die Bohnen in feines Pulver zermahlen können. Das kann aus eigener Erfahrung sein oder nur als Erinnerung an Eltern oder Großeltern, die mit Hilfe von Kaffeemühlen den Sonntagskaffee zubereiteten. Es ist ein Bild aus der Vergangenheit, das aber dennoch Behaglichkeit ausstrahlt. Auch für den Künstler selbst ist die Kaffeemühle ein Motiv aus der eigenen Vergangenheit, hat er doch als Kind immer wieder mit der ausrangierten Mühle seiner Eltern gespielt. In der ausgestellten keramischen Fassung ist die Oberfläche jedoch verändert: Eine rote Textur überzieht das Gerät. Diese erinnert an Korallen, Kristallausblühungen oder an ein sich ausbreitendes Geflecht. In seiner roten Tonalität und den spitzen Zacken wirkt es etwas bedrohlich. Zum einen, weil die Bedienung des Geräts unmöglich oder nur noch mit schmerzenden Handflächen möglich ist, zum anderen, weil die rötliche Struktur uns nicht bekannt ist. Dem Unbekannten begegnen wir meist, richtigerweise, mit Vorsicht. Cremers eröffnet dem Publikum jedoch hier einen interpretatorischen Freiraum. Die rote Flechte könnte giftig sein, ein Virus oder eine andere Form von parasitärer Kraft enthalten. Oder aber sie befand sich lange unter Wasser und ist von Korallen überwuchert. Wie auch immer man das Werk betrachtet, oft erinnert es an ein Zeugnis aus einer anderen, vergangenen oder noch nicht eingetretenen Welt. Das kommt nicht von ungefähr. Denn ein großer Teil der Arbeiten entstand als Reaktion auf die Corona-Pandemie. Es sei ihm vorgekommen, so Cremers, als gehe etwas Altes zu Ende und ein neues Zeitalter breche herein. Er reagierte darauf mit Keramiken und Collagen, bei denen Altes und Neues zusammentreffen.
Das gilt etwa für Blue cat [dt.: Blaue Katze]. Schemenhaft ist hier ein Körper zu erkennen, den man, den Titel zu Hilfe nehmend, als katzenhaft lesen würde. Figurinen von Katzen würde man vielleicht eher in günstigen Deko- oder 1-Euro-Läden erwarten und sie im Bereich des Kitschs einordnen. Tatsächlich hat Cremers auch hier eine private Erinnerung, da seine Mutter ein Porzellankätzchen als Deko nutzte. Die ausgestellte Keramik unterscheidet sich jedoch in mehrfacher Weise von kleinen Porzellanfigürchen. Zum einen entspricht die Anatomie nicht der, die man erwarten würde. Auch die unebene, von Fehlstellen geprägte Lasur fällt ins Auge, was der Darstellung eine ähnliche Fremdheit verleiht wie der zuvor besprochenen Kaffeemühle. Ebenfalls ungewöhnlich sind die blaue, an Lapislazuli erinnernde Farbe sowie der fehlende Kopf. Beides verleiht der Katze etwas von unserer Zeit entferntes. Sie wirkt wie ein kostbarer Schatz aus vergangenen Zeiten. Wer geschichtlich bewandert ist, wird womöglich ganz konkret an Epochen der Geschichte denken. War nicht die Katze im alten Ägypten beliebtes Haustier und Verkörperung der Göttin Basket? Und galt nicht ebenfalls im alten Ägypten Lapislazuli als einer der wertvollsten Edelsteine, weshalb die berühmte Maske des Pharaos Tutenchamuns mit Gold und eben diesem Stein verziert war? Blue cat wird durch all die assoziativen Zuschreibungen, die ihre Unbestimmtheit erlaubt, zu einem Rätsel, das ein ähnliches Staunen in uns auslösen kann, wie uralte Grabfunde. Verfall und Konstruktion, Geschichte und Gegenwart fallen in Cremers‘ Bildwelt zusammen und können so einen einzigartigen Klang entwickeln.
Stimmungsvoll sind auch die Collagen des Künstlers. Für gewöhnlich denken Kunsthistoriker*innen bei dem Wort Collage an fein säuberlich ausgeschnittene Elemente aus Zeitschriften, die in neuen ungewöhnlichen Formen zusammengefügt werden, etwas, das man von berühmten Kunstschaffenden wie Hannah Höch oder John Heartfield kennt. Cremers hat eine eigene Herangehensweise entwickelt, die neben geschnittenen auch gerissene Papierelemente integriert. Für diese Serie The unexpected guest [dt.: Der unerwartete Gast] ist das gerissene Papier essenziell, da er damit einen schwarzen Hintergrund schafft, dessen weißliche Risskanten wie Risse in einem dunklen Universum anmuten. In diesem dunklen Umraum scheint auf jedem Werk ein gelber Tisch zu schweben, jeweils gestaltet aus gerissenen gelben Papierstücken. Schon das hier konstruierte „Setting“ hat eine beinahe magische Wirkung und lässt vermuten, dass hier etwas Besonderes stattfinden wird. Doch was genau? Menschen sind jedenfalls keine zu sehen, sondern lediglich Objekte, die auf menschliche Handlungen hinweisen. Einzelne Gegenstände auf einem Tisch sind im Alltag nicht ungewöhnlich. In der bildenden Kunst bekommen sie aber schnell einen Symbolcharakter. So können Früchte zum Memento Mori mutieren, ein Paar Bauernschuhe ganze philosophische Diskurse entfachen oder eine Uhr den Reichtum des Auftraggebers widerspiegeln. Wir sind es also gewöhnt, Gegenstände in Gemälden als auratisch aufgeladene Sinnbilder zu lesen. Doch um welche handelt es sich hier? The unexpected guest V etwa vereint eine Mingvase, Getränkebecher eines Fast-Food-Unternehmens sowie ein vom oberen Bildrand herunterhängender Eimer mit einem geometrischen Objekt.
Die Mingvase ist ein wertvolles kulturelles Motiv und Sinnbild einer vergangenen, nicht-europäischen Epoche, während die Becher, ebenfalls Gefäße, ein Sinnbild der schnelllebigen, US-amerikanisch geprägten Konsumkultur sind. In Cremers Bildern tauchen immer wieder Bierflaschen oder Müll einer konsumistisch geprägten Welt auf. Für ihn sind diese mit der Frage verbunden, was eigentlich von unserer Kultur übrig bleiben wird. Nach seinem Umzug von Amsterdam nach Berlin konnte er immer wieder beobachten, wie achtlos Bierflaschen liegen gelassen werden. In direktem Kontrast zur Mingvase kann man sich durchaus fragen, ob es das ist, was unsere Zeit ausmacht: Nicht die aufwendig gestaltete und kunstvoll verzierte Keramik, sondern Dekadenz und Müllberge.
Der Putzeimer, wie die Vase und die Becher ein Gefäß, beinhaltet eine geometrische Form. Diese symbolisiert das Unbekannte, was sich 2020 in Form von Corona zeigte. Was wird eine kommende Zeit bringen, welches werden ihre Symbole, welches ihre Gefäße? Gezielt bringt der niederländische Künstler Objekte zusammen, die aus der Vergangenheit stammen, etwa eine Kaffeemühle, ein Schwert, eine Öllampe oder die Mingvase, die mit einer menschlichen Handlung oder Profession in Verbindung stehen (Bauklötzchen für das kindliche Spielen, ein Zylinder und Spielkarten für die Zauberkunst, das Buch für Lesen und Lernen) oder Konsumobjekte darstellen, etwa die Pappbecher, ein Apfel, Kaffeetassen und Aschenbecher. Jedes dieser Objekte hat das Potenzial ein Symbol zu sein. Im Zusammenspiel ergibt sich nicht immer eine eindeutige Lesart. Das ist dem Künstler wichtig, da er möchte, dass das Publikum eigene Erfahrungswerte in die Interpretation mit einbringt.
Eine ganz andere Art von Irritation lösen die Talking heads (dt: Redende Köpfe) aus. Die aus Karton gefertigten Werke zeigen Köpfe, deren anatomische Einzelheiten jedoch von einem als „normal“ verstandenem Haupt abweichen. Bei der Nummer IX scheinen das linke Auge und die Nase noch gewöhnlich, doch gleitet der Blick auf die rechte Seite, dann entwickelt sich ein neues Gesicht, das eher ein Profil darstellt. Solche Darstellungen von Mehrperspektivität kennt die Kunstgeschichte von kubistischen Menschendarstellungen, etwa von Pablo Picasso. Dieser nutzte die Gleichzeitigkeit von Profil und Frontaldarstellung vor allem bei Gemälden, die Frauen zeigen. In warmen, satten Farben gehalten strahlten seine Darstellungen trotz der Abweichungen eine gewisse Eleganz aus. In zweidimensionalen Darstellungen ist der Effekt auch einfacher umzusetzen.
Cremers lässt sein Publikum hingegen eher im Ungewissen. Durch die Dreidimensionalität ergeben sich immer neue Perspektiven, die ein „Lesen“ der Gesichter kaum möglich macht. Sind es schmerzverzerrte Fratzen? Sind sie Ausdruck inneren Wahnsinns? Vielleicht lässt sich auch wieder die Geschichte bemühen. Man denkt vielleicht an die „Gueule Cassée“, die entstellten Soldaten, die aus dem ersten Weltkrieg zurückkehrten. Vielleicht kommen einem auch die als „Schrumpfköpfe“ bekannten Überreste getöteter Menschen aus indigenen Kulturen in den Sinn oder erneut Mumienmasken. Oder sind es Visionen eines „neuen Menschen“?
Jeroen Cremers scheint es Freude zu bereiten, jegliche Eindeutigkeit zu verhindern. So nennt er einen seiner Talking heads (Henry and Edward). Wer damit gemeint ist? Durchstreift man die Geschichte, könnte man einige Namensgeber finden. Hier stehen jedoch zwei literarische Gestalten Pate: Dr. Henry Jekyll und Mr. Edward Hyde. Die Novelle Robert Louis Stevensons dreht sich um eine gespaltene Persönlichkeit, die ein Doppelleben führt. Und so ist auch in Cremers Talking head ein Kopf mit zwei Gesichtern.
Glaubt man jedoch, in den Köpfen eine Auseinandersetzung mit der Geschichte zu sehen, blitzt einem bei Talking head IV ein Adidas-Zeichen entgegen. Dieses ist dem Herstellungsprozess der Arbeiten geschuldet, die aus gebrauchten Kartons geschnitten und verschraubt werden. Doch bei dem vierten Exemplar der Reihe ist noch etwas anders: Röhrenförmige Elemente durchziehen das Haupt. Hier ließe sich erneut Picasso bemühen, jedoch ist die Anmutung eine technoide, eher futuristische, ein Hybrid aus Mensch und Maschine, die man eher in der Welt der Gaming Designs, des Comics oder des Science Fiction erwarten würde.
Alt und neu, bekannt und fremd, vergangen und zukünftig; in seiner Kunst führt Jeroen Cremers Gegensätzliches in Einklang und schafft so einen Zwischenraum, der nie eindeutig, dabei aber gleichsam anregend für eigene Lesarten ist.
Marco Hompes
Leiter Kunstmuseum Heidenheim
September 2022